Feenland
befallene Gewebe vollkommen
zerstörten, war es für ihre Stimmbänder zu spät;
sie klingt wie Marianne Faithfull nach einer halben Flasche Bourbon.
»Du bist immer noch feucht hinter den Ohren«, sagt sie.
»Du mußt die ganze Welt kennenlernen, wenn du am Rand
überleben willst.«
»Ich habe nicht die Absicht, ewig hierzubleiben. Ich
durchforste das Netz jeden Tag. Früher oder später wird
Milena sich zeigen.«
»Pah! Ebensogut könntest du dein Schicksal aus den
Eingeweiden einer Taube lesen!«
Alex sagt ernst, aus zärtlicher Zuneigung für diese
kratzbürstige alte Frau: »Erklär mir deine Welt,
Darlajane! Teile sie mit mir! Wie lang muß ich für diese
Befreiungs-Aktivisten arbeiten, ehe du mir so weit vertraust,
daß du mich mit ihnen bekanntmachst?«
»Wer sagt denn, daß ich für sie arbeite? Ich habe
meine Kontakte, das stimmt. Aber für sie arbeiten? Pah!
Außerdem – wenn du wolltest, könntest du sie selbst
finden. Sie sind überall. Wenn die Typen einfach alte Punks wie
ich wären, hätte die Friedenspolizei keine Mühe, uns
alle hochgehen zu lassen. Nein, die laufen rum wie Hausfrauen, wie
Studenten…« Darlajane B. lacht. »Wirklich, du hast
nichts gecheckt! Weißt du, was du bist? Ein echtes Kind deiner
Zeit. Immer stur geradeaus, immer unabhängig, mit Scheuklappen
bis an die Grenze zum Autismus. Das ist die Krankheit des neuen
Jahrtausends. Besessen von Selbstliebe, besessen von den Techniken
der Entfremdung. Vielleicht wärst du glücklicher in einem
dieser schicken Einzimmer-Apartments vor den Toren von München
oder Paris.«
»Lies mir die Zukunft!«
Darlajane B. fächert die Karten auf, die sie noch in der Hand
hält, und Alex zieht eine davon.
Ein Mann in der zweifarbigen Strumpfhose, dem Wams und der
Schellenkappe eines mittelalterlichen Hofnarren ist im Begriff,
über den Rand einer Klippe zu schreiten und in das strahlend
blaue Nichts zu stürzen. In einer Hand hält er eine Rose,
die er der Sonne entgegenstreckt, die andere ruht auf einem Ende des
derben Wanderstabs, den er auf der Schulter balanciert. Am anderen
Ende des Steckens hängt ein Lederbeutel, in den das Auge und die
Pyramide der Gnostiker eingestanzt ist. Ein Hund schnappt nach den
knautschigen Stiefeln des Mannes, aber der hat nur Augen für den
schwefelgelben Schmetterling, der dicht vor seiner Nase flattert.
Darlajane B. hält die Karte schräg, und die Figuren auf der
beschichteten Oberfläche scheinen sich zu bewegen. Der Hund
schüttelt den Kopf, der Schmetterling schlägt mit den
Flügeln, auf deren Unterseite Menschenaugen sichtbar werden; der
Mann lächelt und schickt sich an, den letzten Schritt in den
Abgrund zu tun.
Darlajane B. erklärt Alex, daß er dieser Mann ist, der
weise Narr, der Vagabund am Rande der Gesellschaft, verachtet,
für verrückt erklärt und doch genial, ausgestattet mit
dem Funken, der diese Gesellschaft verändern wird. Er ist der
reine Impuls, weder gut noch böse, offen für alle Wunder
der Welt und blind für ihre Gefahren; aber er ist auch der
Joker, unentwegt auf der Jagd nach extravaganten Vergnügen, ohne
das Chaos zu bemerken, das seine Suche anrichtet, weil er sich in der
Freude des Augenblicks verliert.
Alex findet, daß diese Beschreibung mehr Ähnlichkeit
mit Darlajane B. als mit ihm selbst hat. Er hält nicht viel von
dieser Reduktion des Spektrums menschlicher Verhaltensweisen auf eine
Handvoll Jungscher Archetypen, obwohl er mit einem leisen Unbehagen
spürt, daß etwas Wahres in dem steckt, was sie sagt. Hat
er nicht Milena geholfen, die erste Fee in diese Welt zu bringen. Hat
er nicht darauf bestanden – und was kam dabei heraus?
Darlajane B. sagt, daß er in gewisser Weise recht hat –
und daß sie ihn wohl deshalb toleriert.
»Aber ich bin am Ende meiner Reise, und du stehst erst am
Anfang. Das verändert die Bedeutung.«
»Wie meinst du das?«
»Für mich ist die Karte auf den Kopf gestellt. Sie
prophezeit Probleme durch impulsives, leichtsinniges Handeln. Dir
dagegen verheißt sie einen unerwarteten Einfluß, der eine
bedeutende Veränderung erzwingt.«
Später, wenn alles verloren und er wieder heimatlos ist, wird
Alex denken, daß sie unrecht hatte. Im Rückblick erscheint
alles klarer, weil man sich nur an das erinnert, was wichtig ist; das
Gehirn findet immer einen Plan und ein Motiv, und selbst wenn diese
Muster nicht stimmen, sind sie alles, was von der Vergangenheit
bleibt.
Vielleicht erinnert er sich an dieses Gespräch, weil er durch
den
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