Feenland
dann
dein verdammt cooles Gehabe aufgeben müßtest?«
»Jeder von uns muß auf seine Weise mit den Dingen
fertigwerden. Das weißt du ganz genau.«
»Ja«, sagt Jules bitter und preßt die Handballen
in die Augenhöhlen. Morag würde ihn am liebsten in die Arme
nehmen und trösten, aber sie zögert, und dann ist der
Moment vorbei.
Blutige Wattebäusche liegen auf dem Boden neben dem
großen Abfalleimer. Morag zieht ein Paar Latexhandschuhe an und
macht sauber. Das dauert eine Weile, denn sie sucht zuerst alles nach
Nadeln ab. Die Patienten legen sie nicht immer in eigens dafür
vorgesehenen Behälter vor der Tür. Viele haben ihre
Marotten und Geheimniskrämereien, insbesondere die psychisch
Gestörten. Morag kann sie sogar verstehen. Ein Großteil
ihres Lebens spielt sich unter den Augen der Öffentlichkeit ab.
Sie essen und schlafen an öffentlichen Plätzen, benutzen
öffentliche Toiletten, öffentliche Waschräume. Sie
können sich nur in ihr Inneres zurückziehen – und
selbst das ist oft genug den Angriffen halbwüchsiger Genhacker
oder Liebesbomber ausgesetzt.
Jules lehnt sich in seinem Stuhl zurück und sieht fern. Er
redet seit Tagen über die Marsexpedition, und heute ist die
Nacht, in der die Astronauten landen sollen. Morag schläft ein
wenig. Beim Aufwachen hat sie ein sandiges Gefühl hinter den
Augen, und Jules sagt: »Sie sind fast unten.«
Der Bildschirm zeigt ein verwirrendes Muster aus körnigen
Rot- und Ockertönen mit einem gleißenden Punkt in der
Mitte. Der Punkt ist der Mars-Lander. Er zündet sein Triebwerk,
um das Tempo zu drosseln und den Orbit zu verlassen. Die Aufnahmen
werden vom Basislager auf Phobos übertragen.
Jules erklärt: »Noch vier Umkreisungen, und dann beginnt
das Abbremsmanöver. Sie werden kurz nach Ende unserer Schicht
aufsetzen.«
Morag hat soviel Leid in Afrika gesehen, daß ihr dieses
Unternehmen nebensächlich erscheint. Sie sagt das auch, und
Jules zuckt die Achseln. Er spricht gern über die Mars-Mission:
Das lenkt ihn ab.
»Leid wird es immer geben«, meint er. »Ich
betrachte diese Marslandung als einen Schritt nach vorne, als
Motivation für die übrige Menschheit.«
»Okay, und ich muß an die Wirtschaftsthesen des vorigen
Jahrhunderts denken, die aus dem rechten Lager kamen – an all
diesen Schwachsinn über die Schaffung einer wohlhabenden Elite,
die der gesamten Gesellschaft zugute kommen würde. Wir
kämpfen heute noch mit den Problemen, die daraus entstanden. Die
ganze Welt kämpft damit. Es gäbe keinen Hunger in Afrika,
wenn die Länder dort ihre Rohstoffe und Anbauprodukte selbst
nutzen könnten, anstatt sie zu exportieren, um ihre Schulden zu
begleichen. Und ein Großteil dieser Schulden entstand durch
abenteuerliche High-Tech-Projekte, die ihnen aufgeschwatzt wurden,
oder durch massive Waffenkäufe.«
»Ich gebe zu, daß unsere Welt alt und müde ist.
Aber vor uns liegt ein neuer Planet. Vielleicht gewährt uns der
Mars eine bessere Perspektive auf die Probleme der Erde. Die halbe
Weltbevölkerung sitzt heute vor den Bildschirmen. Sechs
Milliarden Menschen.«
»Und die andere Hälfte hat keinen Platz zum Leben,
geschweige denn ein Fernsehgerät. Wir haben so viele
Schwierigkeiten auf dieser Welt, daß wir uns den Neubeginn auf
einer anderen Welt gar nicht leisten können.« Das klingt
hart, und Morag bedauert ihre Worte sofort. Sie wechselt das Thema.
»Manchmal vergeht eine ganze Stunde, in der ich nicht an das
kleine Mädchen oder an den kleinen Jungen denke. Ich weiß,
daß ich überhaupt nicht an sie denken sollte. Die Menschen
sterben wie die Fliegen. Wie viele waren es in diesem Jahr hier
unten?«
»Vermutlich nicht mehr als zwanzig. Aber ich
weiß, was du meinst. Dieser Fall war ganz anders. Die
Brutalität, mit der dem Mädchen der Bauch zerfetzt
wurde… Alessi hat große Angst.«
Alessi ist Jules’ Frau. »Ach, Jules, das tut mir
leid.«
»Auch die Kinder spüren etwas. Und dann stand heute
morgen dieser Mann vor unserer Wohnungstür…«
»Ein Engländer? Mehr als fett?«
»Oh – du kennst ihn?«
»Ich glaube, er ist Reporter. Laß dich nicht von ihm
ausquetschen, Jules! Verständige die Polizei, wenn er noch
einmal auftaucht. Ich kenne diese Schmierfinken. Mich hat er gestern
abend belästigt. Typen wie der würden die
Verstümmelung in allen gruseligen Details schildern und kein
Wort darüber verlieren, daß die Kleine in einer Baracke
mitten auf den Müllhalden von Paris gelebt hat.«
»Wir in La Gouette d’Or haben
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