Feenland
Morags Blick auf Jules.
Er steht bereits umgezogen im Eingangsbereich und unterhält sich
mit einer alten Frau. Erst in diesem Moment wird ihr klar, daß
Dr. Science sie beide ausgehebelt hat.
Im ersten Teil der Schicht haben sie viel zu tun; das hilft. Gegen
drei Uhr morgens, als die Ambulanz der Klinik endlich leer ist, zieht
sich Louis zum Schlafen in eine durch einen Vorhang abgeteilte Ecke
zurück. Wie er Morag und Jules zu verstehen gibt, holt er auf
diese Weise immer seinen Schlaf nach, sobald der
Nachmitternachts-Ansturm vorbei ist, und erwartet, daß sie ihn
nur in wirklich dringenden Notfällen stören.
Jules und Morag sitzen Seite an Seite auf Plastikstühlen in
einer Ecke der Klinik und trinken eine gräßliche
Milchkaffee-Brühe, über sich ein Werbeplakat für
Skiurlaub in den Französischen Alpen, auf dem ein paar
lebensstrotzende, braungebrannte Achtzigjährige in einer Wolke
künstlichen Pulverschnees davonstieben. Sie unterhalten sich
flüsternd, um weder Louis hinter seinem Vorhang noch die
unruhigen Schläfer draußen auf dem Plattformen zu
stören. Jules erkundigt sich nach Morags Befinden und
äußert seine Erleichterung darüber, daß sie den
schlimmen Vorfall so gut weggesteckt hat.
»Was hast du erwartet? Daß ich weinend zusammenklappe?
Bitte, Jules! Ich habe genug tote Kinder gesehen. In manchen Gegenden
Afrikas wirst du das Gefühl nicht los, daß Kinder
schneller sterben oder umgebracht werden, als sie auf die Welt
kommen. Es gibt Rebellengruppen, die Fünf- bis Sechsjährige
zu Soldaten ausbilden. Pumpen sie mit Fembots voll, die sie in
psychotische Killer verwandeln, und lassen sie dann im Busch frei,
damit sie andere Kinder aufspüren und töten.«
»Hey – deshalb brauchst du doch nicht auf mich
wütend zu sein!«
»Ich bin nicht wütend. Ich leide unter
Schuldgefühlen. Hast du diesen Protestmarsch zum Interface
gesehen?«
»Klar – es war ja nicht der erste.«
»Ich hätte dabei sein sollen, Jules. Das ist es, was
mich bedrückt.«
Morag merkt, daß ihr Kaffee kalt geworden ist, und
schüttet ihn in den Ausguß. Keine große
Verschwendung. Es ist das gleiche Gesöff, das die Patienten
bekommen, dünn, sandig vom Kaffeesatz und zum xten Mal in der
großen Aluminium-Maschine aufgebrüht. Die Klinik besteht
aus einem langgestreckten Raum mit niedriger Decke und kahlen
Betonwänden, die mit einem Sammelsurium von Reise-Postern und
Gesundheitsratschlägen zugepflastert sind. Auch der
Heizlüfter, der über der Tür vor sich hin murmelt,
kann die Feuchtigkeit nicht vertreiben. Grüne Vorhänge an
fahrbaren Rahmen unterteilen ihn in provisorische Kabinen. Die
Einrichtung beschränkt sich auf das Waschbecken und einige
Stahlschränke mit großen Schlössern für die
Medizinvorräte, einen Spind und die Kaffeemaschine. Der
Fernseher dicht unter der Decke bringt die jüngsten Bilder der
Marsexpedition. Die Marsoberfläche zeigt das gleiche verbrannte
Rot wie der afrikanische Staub.
»Ich will dir mal was sagen«, murmelt Jules. »Das
ist nicht der erste Mord dieser Art. Ein Freund von mir arbeitet in
einer Abteilung des Ministeriums für Forschung und Technik. Er
hat versucht, die Berichte in eine Wechselbeziehung zu bringen. Es
gab eine ganze Reihe ähnlicher… Vorfälle.«
»Wie viele?«
Jules reibt sich die Augen. Er ist ebenfalls müde.
»Sechs. Sechs, von denen sie erfahren haben. Immer sind es
kleine Mädchen aus den Bidonvilles in der Nähe des Magic
Kingdom. Und immer wurden ihnen die Eierstöcke
entfernt.«
Morag setzt sich wieder. »Wann hat das angefangen?«
»Das erste Verbrechen geschah vor ziemlich genau zwei
Monaten. Und Dr. Science, dieser Dreckskerl, weiß genau
Bescheid – davon bin ich überzeugt!«
»Jules, es geht mich vielleicht nichts an – aber du
nimmst diese Angelegenheit sehr persönlich.«
»Warum halten die Medien still, Morag? Sechs kleine
Mädchen, grausam verstümmelt! Und weder die Polizei noch
die Bürgerwehr hat ihre Finger im Spiel. Mein Freund arbeitet in
einer Abteilung, die sich mit den Auswirkungen neuer Techniken auf
die Gesellschaft befaßt. Es ist dieses verdammte Interface,
wenn du mich fragst! Sechs kleine Mädchen sind ein Opfer, das
man bringen kann, solange wir weiterhin mit all den Annehmlichkeiten
überhäuft werden. Und nun der kleine Junge! Überleg
doch, was er…«
»Sei still!« unterbricht ihn Morag.
»Warum?« zischt Jules wütend, und die dunklen Augen
hinter den verschwollenen Wangenknochen brennen. »Weil du
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