Fehlfunktion
architektonischer Hinsicht bankrotten Einkaufspassagen und Gänge von Messopia streunten.
Alles hätte anders kommen können, wenn das Erziehungssystem ihn früh genug aufgefangen hätte, wenn er genug Kraft gehabt hätte, sich gegen den Druck seinesgleichen zur Wehr zu setzen, wenn die Technokraten, die Messopia geschaffen hatten, weniger Verachtung für die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften gezeigt hätten. Gelegenheiten hätte es genug gegeben. Lewis Sinclair lebte in einem Zeitalter beachtlicher wirtschaftlicher und technologischer Fortschritte, und es wurde ihm niemals bewußt, ganz zu schweigen davon, daß er daran teilgehabt hätte. Die ersten großen Ladungen Erz aus den Asteroiden ersetzten die erschöpften planetaren Reserven, in der Biotechnologie erfüllten sich endlich die vielversprechenden Visionen der Anfänge, und erste einfache Versionen des Affinitätsbandes wurden der breiten Öffentlichkeit vorgestellt, mehr und mehr verschmutzungsfreie Fusionskraftwerke gingen ans Netz, als der Nachschub an Helium-III aus den oberen Atmosphäreschichten des Jupiter zunahm. Doch nichts von alledem reichte bis zu Lewis’ gesellschaftlicher Schicht hinunter. Er starb 2076 im Alter von siebzehn Jahren, ein Jahr, nachdem das BiTek-Habitat Eden im Orbit um den Jupiter germiniert worden war und ein Jahr, bevor die Asteroidensiedlung von New Kong ihr Forschungsprojekt eines überlichtschnellen Raumschiffantriebs begann. Lewis’ Tod war die gleiche Verschwendung wie bereits sein Leben: ein Kampf mit Vibratormessern in einem von Pisse stinkenden unterirdischen Lagerhaus. Sowohl Lewis als auch sein Gegner waren mit synthetischem Crack vollgepumpt bis zur Halskrause. Anlaß des Kampfes war ein dreizehnjähriges Mädchen, das beide vögeln wollten.
Lewis verlor. Die Vibratorklinge schnitt glatt durch seine Rippen und teilte seinen Magen in zwei ungleiche Hälften.
Und dann machte Lewis Sinclair die gleiche Entdeckung wie jeder andere Mensch irgendwann auch: Der Tod war nicht das Ende des Seins. In den Jahrhunderten, die folgten und die Lewis als praktisch machtlose astrale Entität in der dimensionalen Leere verbrachte, wünschte er sich nichts mehr, als daß es anders wäre.
Doch nun war Lewis Sinclair zurückgekehrt. Er besaß wieder einen Körper, und er weinte vor Freude wegen einer so einfachen und wunderbaren Sache wie Regentropfen, die auf sein nach oben gerichtetes Gesicht fielen. Er würde nicht wieder in dieses Nichts zurückkehren, das auf das physische Leben folgte, niemals wieder. Und er besaß die Macht, dafür zu sorgen, daß es so blieb, er und all die anderen; wenn sie gemeinsam handelten, waren sie unglaublich mächtig.
Er war mehr als früher, besaß weit mehr als die Kräfte, die Fleisch und Blut ermöglichten. Ein Teil seiner Seele war noch immer dort drüben in dem schrecklichen leeren Abgrund. Er war gefangen wie ein Schmetterling, der nicht imstande war, seine bodengebundene Puppe abzustreifen und sich frei in die Lüfte zu schwingen. Oft fühlte er sich, als wäre der Körper, in den er gefahren war, kaum mehr war als ein biologischer Sensormechanismus, ein Maulwurfskopf, der aus seinem Erdhügel blickte und einer sich wie verhungert anfühlenden Seele vermittels einer körperlosen, etherischen Nabelschnur Informationen zukommen ließ. Seltsame energistische Strudel wirbelten rings um die dimensionale Verwerfung, wo die beiden Kontinuen sich durchmischten und einen Knick in der Realität verursachten. Der bizarre Effekt ließ sich nutzen, gehorchte Lewis’ Willen. Er war imstande, physikalische Strukturen zu ändern, Energie zu formen und sogar weitere Übergänge in das fremde Universum zu erschaffen. Nach und nach wuchs seine Beherrschung der neuen Kräfte, doch die ungezügelten Nebeneffekte und Resonanzen verursachten ein Chaos in kybernetischen Apparaten und elektronischen Prozessorblocks ringsum.
So beschränkte er sich darauf, durch die kleine geschwungene Frontscheibe des Raumflugzeugs zu beobachten, wie die Yaku (die inzwischen unter einer gefälschten Registrierung lief) zwischen den grellen Sternen kleiner wurde und seine neuen Muskeln sich in den Gurten der Beschleunigungsliege entspannten. Die Systeme des Raumflugzeugs waren eine ganze Größenordnung einfacher aufgebaut als die der Yaku, und die Gefahr kritischer Fehlfunktionen grenzte nun an das Unwahrscheinliche. Raumflug war eine beängstigende Angelegenheit, so unglaublich technisch. Lewis’ Abhängigkeit von
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