Fehlfunktion
deinem Glauben vor dem wirklichen Leben?«
»Heiliger Vater, Herr des Himmels und der sterblichen Welt, sieh auf Deinen untertänigen Diener! Ich flehe Dich an, hilf mir bei diesem Akt der Seligmachung, durch Deinen Sohn Jesus Christus, der unter uns wandelte und unsere Irrungen gesehen hat! Segne mich und meine Aufgabe!« intonierte Horst. Es war so lange her, daß er die Litanei im Buch der Vereinigten Kirche gelesen hatte, und niemals zuvor hatte er die Worte laut ausgesprochen, nicht in diesem Zeitalter der Wissenschaften und des universalen Wissens, wo die Menschen in Arkologien aus bröckelndem Beton und glänzendem Komposit lebten und selbst die Kirche ihre Notwendigkeit in Frage stellte. Die Litaneien waren ein Relikt. Sie stammten aus den Tagen, da Glaube und Paganismus noch eins gewesen waren. Doch jetzt leuchteten die Worte in seinem Verstand wie die Sonne selbst.
Freyas verächtlicher Blick wich Schrecken. »Was?« Sie sprang vom Bett auf.
»O Herr im Himmel, blicke auf Deine Dienerin Freya Chester, die von diesem unreinen Geist befallen ist, und hilf mir, ihn zu vertreiben, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!« Horst machte das Kreuzzeichen über dem kleinen Mädchen, das vor Wut außer sich war.
»Hör sofort auf damit, du alter Narr! Glaubst du, ich fürchte mich davor? Vor deinem blinden Glauben?« Sie schien die Kontrolle über ihre Körperform zu verlieren. Das Bild von einem gesunden, sauberen Kind flackerte wie eine defekte Lichtröhre und gab den Blick frei auf das schmutzige, halb verhungerte Kind darunter.
»Ich beschwöre Dich, verleihe mir die Kraft, o Herr, damit Dein Diener ihre Seele vor der ewigen Verdammnis retten kann.«
Die Bibel in Horsts Händen ging in Flammen auf. Horst stöhnte vor Schmerz, als die Hitze an seiner Hand fraß. Er ließ das Buch zu Boden fallen, und es zischte und qualmte am Fußende seines Bettes. Seine Hand fühlte sich an, als hätte er sie in siedendes Öl getaucht.
Freyas Gesicht war eine Fratze der Entschlossenheit. Große gummiartige Hautfalten entstellten ihre hübschen Züge bis fast zur Unkenntlichkeit. »Verdammter Priester! Fick dich!« Die Obszönität klang aus dem Mund eines Kindes fast lächerlich. »Ich brenne dir den Verstand aus deinem Schädel! Ich koche dir dein Gehirn im eigenen Saft!« Ihre besessene Gestalt schimmerte erneut. Die Person darunter, die Freya war, drohte zu ersticken. Horst umklammerte mit seiner unverletzten Hand das Kruzifix. »Im Namen unseres Herrn Jesus Christus befehle ich dir, Diener Satans, aus dem Körper dieses Kindes zu weichen! Kehre zurück in das gestaltlose Nichts, in das du gehörst!«
Freya stieß einen durchdringenden Schrei aus. »Woher weißt du davon!«
»Hinfort aus dieser Welt! Es gibt keinen Platz unter den Augen Gottes für die, die im Bösen leben!«
»Woher, Priester?« Sie drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, und ihre Nackenmuskeln traten hervor, als kämpfte sie gegen eine unsichtbare Kraft. »Sag mir, woher du das …«
Horst spürte, wie sich Hitze in seinem Rückgrat bildete. Er schwitzte heftig, und er fürchtete, daß sie ihn tatsächlich verbrennen könnte. Es war wie der schlimmste Sonnenbrand, den er sich nur vorstellen konnte, als risse seine Haut auf und löste sich vom Fleisch darunter. Bald würde seine Kleidung Feuer fangen, kein Zweifel.
Er streckte dem Mädchen die Hand mit dem Kruzifix entgegen. »Freya Chester, komm hervor! Kehre zurück in das Licht und das Reich unseres Herrn!«
Und mit einemmal stand Freya Chester vor ihm, das dünne, eingesunkene Gesicht von Pein gequält, Speichel auf dem Kinn. Ihr Mund bewegte sich, kämpfte um Worte. In ihren schwarzen Augen stand nacktes Entsetzen.
»Komm hervor, Freya!« schrie Horst jubilierend. »Du mußt dich vor nichts fürchten! Der Herr wartet auf dich!«
»Vater!« Ihre Stimme war grenzenlos schwach. Sie hustete und spuckte einen dünnen Nebel aus Speichel und Galle. »Vater, hilf mir!«
»Herr im Himmel, erlöse uns unwürdige Sünder von dem Bösen! Wir erflehen Deine Gerechtigkeit, o Herr, und wir wissen, daß wir ihrer nicht wert sind. Wir trinken von Deinem Blut und essen von Deinem Fleisch, um an Deinem Reich teilzuhaben, und doch sind wir nichts weiter als der Staub, aus dem Du uns gemacht hast. Führe uns auf unseren Irrwegen, o Herr, denn in unserer Ignoranz und Dummheit wissen wir oft nicht, was wir tun. Wir flehen Dich an um deinen heiligen Schutz.«
Einen letzten
Weitere Kostenlose Bücher