Fehlfunktion
ziehe meinen Hut vor Euch. Ich wäre in einer Million Jahren nicht auf so einen Gedanken gekommen.«
»Das ist alles nur eine Frage der Umgebung und der Erziehung. Ich bin daran gewöhnt, in diesen Begriffen zu denken, Mister Wallace. In Ihrem Jahrhundert wäre ich völlig verloren.«
»Das sehe ich nicht, Mrs. Kelly. Überhaupt nicht, wirklich.« Im dritten Obergeschoß lagen noch mehr Leichname von Vasallen. Die beiden Brüter lagen allein im vierten Obergeschoß.
»Ob sie so etwas wie Liebe haben, diese Viecher?« fragte Shaun Wallace und blickte auf die beiden Toten herab. »Wenn Ihr mich fragt, dann würde ich sagen ja. Zusammen sterben ist romantisch, denke ich. Wie bei Romeo und Julia.«
Kelly bohrte ihre Zunge in die Wange. »Sie sind mir gar nicht wie ein Shakespeare-Kenner vorgekommen.«
»Ihr solltet mich nicht unterschätzen, Miss, Ihr mit Eurer großartigen Ausbildung. Ich bin ein Mann mit verborgenen Tiefen, bin ich, Mrs. Kelly.«
»Sind Sie im Jenseits eigentlich jemals einer berühmten Persönlichkeit begegnet?« fragte Pat.
»Begegnet!« Er rang die Hände in übertriebener Dramatik. »Ihr sprecht über das Jenseits, als wäre es eine Art gesellschaftlicher Versammlung! Lords und Ladies, die den Abend bei einem Glas Wein und einem Kartenspiel verbringen! So ist es nicht, Mister Halahan. Absolut nicht.«
»Trotzdem. Sind Sie einer Berühmtheit begegnet?« beharrte der Söldner. »Schließlich waren Sie viele Jahrhunderte lang dort. Es muß doch die eine oder andere bedeutende Seele gegeben haben?«
»Ah, ja, jetzt, wo Ihr es sagt, erinnere ich mich an einen Gentleman namens Custer.«
Pats neurale Nanonik startete eine rasche Suche. »Sie meinen den amerikanischen General, der im neunzehnten Jahrhundert eine Schlacht gegen die Sioux-Indianer verloren hat?«
»Aye, Mister Halahan, genau den. Sagt nicht, Ihr hättet in der heutigen Zeit von ihm gehört!«
»Er ist eine Gestalt in unseren Geschichtskursen. Wie hat er sich gefühlt dort drüben? Ich meine, weil er so auf der ganzen Linie verloren hat?«
Shaun Wallaces Gesichtsausdruck versteinerte. »Er hat überhaupt nichts gefühlt, Mister Halahan. Er war genau wie wir alle. Er hat geweint ohne die Möglichkeit, Tränen zu vergießen. Ihr vergleicht das Jenseits mit Eurer Welt, Mister Halahan, und das ist dumm, bitte verzeiht den Ausdruck. Wißt Ihr auch, wer Hitler ist? Sicher habt Ihr von ihm gehört, wenn Ihr schon den armen verdammten George Armstrong Custer kennt?«
»Wir wissen, wer Hitler war. Auch wenn er erst nach Ihrer Zeit gelebt hat, wenn ich mich recht entsinne.«
»Ihr entsinnt Euch recht, in der Tat. Aber glaubt Ihr vielleicht, er hätte sich nach seinem Tod verändert, Mister Halahan? Meint Ihr, er hätte seine Überzeugungen verloren oder seine Selbstgerechtigkeit? Glaubt Ihr allen Ernstes, der Tod würde Euch zurückblicken lassen auf das Leben und erkennen, was für ein Arschloch Ihr gewesen seid? O nein, Mister Halahan, alles, nur das nicht! Ihr seid zu beschäftigt mit Weinen, zu beschäftigt mit Fluchen, zu beschäftigt, die Erinnerungen Eurer Nachbarn auszuplündern wegen des bitteren Geschmacks und der blassen Farben, die sie Euch geben. Der Tod gibt den Seelen keine Weisheit, Mister Halahan. Er macht sie nicht demütig vor Gott dem Herrn. Er macht alles nur noch schlimmer!«
»Hitler«, sagte Kelly entrückt. »Stalin. Dschingis Khan, Jack the Ripper, Helmen Nyke. Die Schlächter und die Kriegstreiber. Sind sie alle dort drüben? Warten sie etwa alle im Jenseits?«
Shaun Wallace warf einen Blick hinauf zur Kuppeldecke, die sich teilweise in den Schatten der fremden Architektur verlor, und einen kurzen Augenblick lang verrieten seine Gesichtszüge jedes einzelne Jahr seines unglaublichen Alters. »Aye, Mrs. Kelly«, sagte er schließlich. »Sie sind alle dort. Jedes einzelne Monster, das die gute alte Erde jemals hervorgebracht hat. Alle haben nur eines im Sinn: zurückzukehren um jeden Preis. Und alle warten nur auf ihre Gelegenheit. Wir Possessoren mögen uns vielleicht vor dem offenen Himmel verstecken und vor dem Tod, aber wir werden ganz bestimmt nicht das Paradies auf dieser verlorenen Welt erschaffen. Das würde gar nicht gehen, weil wir nur Menschen sind. Versteht Ihr?«
Der Morgen war noch nicht wirklich angebrochen; die Sonne stand noch eine halbe Stunde unter dem östlichen Horizont. Doch die schwarzen Regenwolken waren vorbeigezogen, und die Nacht hatte dem Wind die Kraft geraubt. Der Himmel im
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