Fehlschuss
deine Finger geschaut.“ Sie zog seine
Hand weg und strahlte ihn an. Dann schob sie ihre Rechte unter seinen
Bademantel, verharrte eine Weile auf dem Oberschenkel, bevor sie Richtung
Innenseite glitt, weiter nach oben und schließlich jeden klaren Gedanken in
Chris löschte.
„Wie geht es deinem Bein?“, fragte Karin, als sie endlich beim
Frühstück saßen.
„Gut! Warum?“
„Gut genug für einen Spaziergang? Ich muss mich irgendwie bewegen.“
„Was schlägst du vor?“
„Königsforst? Wildgehege?“
„Halt ich aus. Und du?“
„Ohne mein altes Mädchen kein Problem. Aber was ist mit deinen
Bodyguards da draußen?“
„Die werden wohl oder übel mitlaufen müssen. Obwohl ich das Ganze
wirklich für Quatsch halte. Carlos ist über alle Berge, darauf gehe ich jede
Wette ein.“
Sie gingen außen um das Gehege herum. Der Weg war zwar länger, aber
man hatte Chancen, eine friedliche Rotte Wildschweine zu sehen, die sich vor
den Menschenströmen im Inneren bis an den äußeren Zaun zurückzogen.
Karin hatte nicht übertrieben, als sie die Reaktion ihrer Mitmenschen
beschrieb. Die meisten der anderen Spaziergänger warfen der einbeinigen Frau
Blicke zu. Manchmal mitleidig, manchmal ablehnend, manchmal fasziniert. Chris
starrte jedes Mal auf die gleiche Weise zurück. In neunzig Prozent der Fälle
erreichte er zumindest ein Niederschlagen der Augen.
Schon seit dem Frühstück war Karin schweigsam. Viel zu schweigsam für
sein Gefühl. Und obwohl sie sich auf einem Waldlehrpfad befanden, an dessen
Rändern viele außergewöhnliche Gewächse blühten, war sie noch kein einziges Mal
stehengeblieben, hatte weder etwas betrachtet noch erklärt.
Erst als sie schon fast die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten,
rückte sie mit dem heraus, was sie beschäftigte. „Kann es sein, dass Inge
sterben musste, nur weil ich aus Versehen dieses dämliche Foto gemacht habe?“
Er legte seine Hand auf Karins Linke und passte seine Schritte an.
„Was soll das, Karin? Du kannst nun wirklich nichts dafür!“
Sie blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Wenn es dieses Foto nicht
gegeben hätte, wäre Inge nie auf die Idee gekommen, jemanden zu erpressen.“
„Karin!“ Er sprach ihren Namen schärfer aus als beabsichtigt. Wieso
nur mussten sich Frauen immer wieder Schuldgefühle einreden? Es machte ihn
jedes Mal grässlich wütend. Zu oft schon hatte er erlebt, dass eine grün und
blau geschlagene Ehefrau die Anzeige gegen ihren Mann wieder zurückzog, weil
sie eigentlich selbst Schuld war. Schließlich hatte der Mann ja nur
zugeschlagen, weil sie das Essen zu spät, zu kalt oder zu warm auf den Tisch
gebracht hatte.
„Karin!“, sagte er noch einmal und fasste seine Freundin hart an den
Oberarmen. „Du verwechselst Henne und Ei! Inge war habgierig und hat das dicke
Geschäft gerochen. Sie wollte Geld, Macht, der Tönnessen eins auswischen. Aber
sterben musste sie nur, weil ein Mann beschlossen hatte, sie zu foltern! Nicht
mehr und nicht weniger. Wen auch immer sie erpresst hat, er hätte unter tausend
Möglichkeiten wählen können. Er hätte zahlen können, zur Polizei gehen, was
weiß ich. Aber er hatte nicht das Recht, sie zu quälen. Er hatte nicht das
Recht, einem Menschen das Leben zu nehmen. Niemand hat das!“
Chris redete sich richtig in Rage, beinahe wie vor Gericht. Hatte zum
Schlussplädoyer angehoben in der Sache „Berndorf gegen ihren Schuldkomplex“.
Jetzt holte er tief Luft und hoffte, dass es da ankam, wo es hinsollte.
Karin sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Dann drehte sie
sich um und sah einem Wildschwein zu, das hinter dem dicken Maschendrahtzaun in
der Erde wühlte. Ab und zu sah es auf und blickte über die dreckverkrustete
Nase hinweg misstrauisch zu den beiden Menschen hinüber.
Es dauerte eine Weile, aber dann nickte Karin. „Ich verstehe, was du
meinst“, sagte sie langsam und lachte auf. Das Wildschwein zitterte mit den
Flanken und machte sich verschreckt davon. „Um bei deinem Bild zu bleiben: Das
Foto war das Ei, aber ohne Henne und ohne Hahn wäre da nie ein Küken draus
geworden.“
Damit ging sie weiter und zeigte Chris den „Zottigen Klappertopf“,
dessen gelbe Blüten beinahe die Form einer Narrenkappe hatten.
Es war angekommen.
„Die Italiener waren ausnahmsweise mal schnell“, sagte Susanne und
nippte an ihrem Wasser.
Sie hatte sich mit den beiden in einem Café schräg gegenüber dem
Präsidium getroffen. Der Besitzer schien eine Vorliebe
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