Fehlschuss
den Beinen, wie du und
ich. Viel Schlaf hat sie die letzten beiden Wochen sicher auch nicht gehabt.
Nur, wir beide sind völlig am Ende, und sie rennt mit dem Abzug los und gibt
diese Nacht sicher nicht eher Ruhe, bis der Typ identifiziert ist. Woher nimmt
sie, verdammt noch mal, die Energie?“
„Vielleicht ist Energie nicht ganz der richtige Ausdruck. Besessenheit
passt wahrscheinlich besser.“
„Wie meinst du das?“
„Susanne war mal eine charmante, attraktive Frau, sprühte vor Witz,
irgendwie hinreißend. Sie hat großen Wert auf ihr Äußeres gelegt und eine Menge
Geld für schicke Klamotten ausgegeben. Ob du´s nun glaubst oder nicht. Ihr Mann
Peter war ebenfalls Polizist, Hauptkommissar im Wach- und Wechseldienst. — und
er war mein bester Freund. Ich hatte gerade mit dem Studium angefangen, da
haben wir uns auf einem Juraseminar kennengelernt. Wir hatten gleich einen
Draht zueinander. Dass er ein paar Jahre älter war, spielte irgendwie nie eine
Rolle. Er war …“
Chris schluckte hart. Es war immer noch schwer, über Peter zu
sprechen, ohne dass ihm das Herz bleischwer wurde. „Er war für mich so was wie
der große Bruder, weißt du. Ohne ihn hätte ich mich sicher auch nicht auf
Strafrecht spezialisiert. In meinen Augen war sein Job der spannendste auf der
ganzen Welt. Bulle wollte ich aber nicht werden. Also Strafrecht, dachte ich.
Das hatte ja auch was mit seiner Arbeit zu tun. Vor ein paar Jahren dann … Er
ist bei einer Alkoholkontrolle erschossen worden, von einem Kleinkriminellen,
der in Panik geraten war. Gegen ihn lag nur ein Haftbefehl wegen Hehlerei vor,
weiter nichts. Jetzt sitzt er fünfzehn Jahre. Was Peter jedoch auch nicht
wieder lebendig macht.“
„Und seitdem ist Susanne so wie sie ist!“, schloss Karin aus seinen
Worten.
„Ja! Peter hatte mal zu mir gesagt, ich soll mich um `seine Süße´
kümmern, falls ihm was passiert. Ich hab´s versucht, ehrlich. Ich dachte, wenn
wir zusammen trauern, über ihn reden … Aber Susanne hat komplett dichtgemacht.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, tut sie das bis heute. Sie hat seinen Tod wohl
nie verwunden, und ich glaube, jeder Todesfall in dieser Stadt wird in ihren
Augen zu Peter. Und dann überschreitet sie alle Grenzen.“
„Chris?“
„Hmh?“
„Ich … du … Herrgott, Chris! Ich möchte nicht mein Leben lang Angst um
dich haben. Ich möchte nicht, dass du …“
„Dein Leben lang?“, unterbrach er sie weich. „Hab ich lebenslänglich
von dir bekommen.“
Karin richtete sich auf, und die Kiesel bohrten sich in seine Augen.
„Ja“, sagte sie nur.
Er nahm ihr Gesicht sanft in beide Hände. „Ich bin Strafverteidiger,
Karin. Es wird immer mal wieder Situationen geben, in denen ich ermitteln muss,
Zeugen auftreiben, Befragungen durchführen und so was.“
„Okay, okay! Aber du musst dich nicht unbedingt in Sachen einmischen,
die dich nichts angehen, oder?“
„Nein“, gab er zu und biss sich auf die Lippen.
„Könnten wir dann eine Abmachung treffen? Wenn das hier vorbei ist?
Keine Sachen mehr, die nicht unmittelbar mit deiner Arbeit zu tun haben?“
„Wenn das hier vorbei ist, ja“, antwortete er zögerlich.
Es war schon heller Tag, als Chris aufwachte. Karin schlief tief und
fest neben ihm. Ihr Gesicht war völlig entspannt, und in den Mundwinkeln hingen
kleine Bläschen, die beim Einatmen zusammenschrumpften und sich beim Ausatmen
aufblähten.
Er widerstand der Versuchung, sie zärtlich mit dem Finger wegzuwischen
und schlich stattdessen in die Küche. Während die Kaffeemaschine blubberte,
deckte er leise den Tisch mit dem blau-weißen Geschirr und pfiff dabei ebenso
leise vor sich hin. Es war ein strahlend schöner Tag mit glasklarem Himmel,
über den die Mauersegler schreiend ihr Zickzack flogen und wie toll den
Insekten hinterherjagten.
Als der Kaffee fertig war, füllte er zwei Tassen und ging ins
Schlafzimmer zurück. Während er sich vorsichtig auf der Bettkante niederließ,
schwenkte er die Tasse mit viel Milch unter Karins Nase.
Aber es dauerte eine Weile, bis sie, ohne die Augen zu öffnen,
murmelte: „Wenn man so geweckt wird, kann der Tag nur wundervoll werden.“
„Wenn du die Augen aufmachst, könntest du sehen, wie wundervoll dieser
Tag schon ist.“
„Hm“, brummte sie. „Ist mir zu hell.“
Sie tastete nach seiner Hand und legte sie sich über die Augen.
„Bist du sicher, dass du den neuen Tag so sehen kannst“?, fragte Chris
lachend.
„Absolut! Hab heimlich durch
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