Fehlschuss
spielte, hätte
er am allerwenigsten erklären können.
Susanne steckte ihr Handy zurück in die Jackentasche und verkündete:
„Hellwein hat diesen Meier aufgetrieben. Begeistert war er wohl nicht, aber er
trifft sich in einer halben Stunde mit uns am Verlag.“
Jens Meier, ein hagerer Glatzkopf mit Nickelbrille und Goldkettchen,
war wirklich alles andere als begeistert. Die Negative waren für den Verlag ein
Vermögen wert. Und wer konnte schon wissen, in welchem Zustand er sie
zurückbekommen würde, und vor allem, wann. Und ob man nicht eigentlich eine
richterliche Verfügung oder so was benötigte.
Als Susanne ihm ernsthaft erklärte, dass es um mehrere Menschenleben
ging, fühlte er sich allerdings plötzlich wie ein Held. Dann versprach sie ihm
hoch und heilig, die Negative gleich Montag früh unbeschadet bei ihm persönlich
abzuliefern, und endlich rückte er die dicke Mappe heraus.
Im Auto orakelte Susanne: „Wie ich unseren Laden kenne, haben die im
Labor jetzt stundenlang keine Zeit für uns.“
„Ich hab ´ne bessere Idee. Wir fahren in mein Labor“, schlug Karin
vor.
Der Keller unter dem Laden von Achim und Klaus war funktional
eingerichtet, aber nicht ungemütlich, wenn man von einem chaotisch wirkenden
Lagerraum einmal absah, in dessen Regalen sich Bilderrahmen aller Größen,
Formen und Farben, Kartons mit Fotoalben, Kamerazubehör, Fototaschen und
Plastiktüten mit Werbeaufdruck in wildem Durcheinander stapelten. Einzig und
allein die Seite, auf der die Filme und Kameras selbst gelagert wurden, zeigte
eine gewisse Ordnung. In den Gängen zwischen den Regalreihen versperrte
Dekorationsmaterial den Weg, Pappdisplays, Werbeschilder und jede Menge
Krimskrams zur Schaufenstergestaltung. Chris sah zwei Plüschhasen im
Liegestuhl, eine Sandburg aus Styropor und Wasserbälle. Achim und Klaus
schienen die Sommerdekoration vorzubereiten.
Der Rest des Kellers trug eindeutig die Handschrift von Karin. Eine gemütliche
und aufgeräumte Büroecke aus hellem Holz, eingerahmt mit meterhohen Fotos, die
vergessen ließen, dass es hier unten kein Tageslicht gab. Da waren Tulpenfelder
unter blauem Himmel mit Schäfchenwolken, Sonnenaufgänge über dem Meer und
blühender Lavendel auf einer so großen Anbaufläche, dass sich das Blau irgendwo
am Horizont verlor.
„Frankreich“, erklärte Karin lächelnd, als sie sah, wie Chris
fasziniert auf den Lavendel starrte.
Dann zwängte sie sich an einer Passepartoutschneidemaschine vorbei und
öffnete die Tür dahinter. Über dem Rahmen hing eine Glühbirne aus rotem Glas.
„Oben im Laden ist eine kleine Küche“, gab sie Anweisung. „Koch mal einer
Kaffee. Und wenn die Birne leuchtet, kommt ja nicht rein!“
Während Susanne nach oben ging, um die Küche zu suchen, wanderte Chris
zwischen den Regalen herum. Frankreich! Wenn das hier vorbei war, würde er das
Büro für mindestens zwei Wochen schließen und mit Karin Urlaub machen. Wenn es
vorbei war …
Gedankenverloren blätterte er in einem hohen Papierstapel, unter
dessen Gewicht sich der Regalboden bog. Rechnungen, Lieferscheine, Preislisten
und Werbeprospekte lagen in wildem Durcheinander. Der Steuerberater, der dieses
Chaos lichten musste, hätte er nicht sein mögen. Offenbar hatten Achim und
Klaus das Wort „Ablage“ noch nie gehört.
Nervös rieb er sich über die Stirn. Hoffentlich war der ganze Aufwand
nicht umsonst. Vielleicht war es ja doch kein Fehlschuss gewesen, und die
beiden Männer waren gar nicht auf dem Bild. Oder sie waren nicht zu erkennen,
oder, oder, oder … Wenn der eine tatsächlich Manuel Viego war, wie Susanne
vermutete, wer war dann der andere? Auf jeden Fall jemand, den Inge gekannt
hatte. Und welchen Mann hatte sie gekannt, außer ihren Freiern oder ominösen
Liebhabern? Womit sie wieder am Anfang wären.
Als die Kommissarin mit einem gut bestückten Tablett zurückkam, mixte
Chris in eine Tasse halb Milch, halb Kaffee, so wie Karin es am liebsten hatte,
und brachte sie nach nebenan. Nicht ohne vorher auf die Lampe zu schauen, die
immer noch dunkel war.
Der kleine Raum war vollgestopft mit Geräten, die ihm völlig fremd
waren. Kästen, über denen dicke Lupen hingen; etwas, das aussah wie ein auf dem
Kopf stehendes Mikroskop; ein großer Apparat, den man für einen
überdimensionierten Kopierer halten konnte. Bunte Plastikschüsseln
verschiedener Größe waren mit Flüssigkeit gefüllt. Auf einem Regalbrett darüber
standen Dutzende brauner Flaschen und Kanister.
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