Fehlschuss
wusste.
Vielleicht lag es gerade daran, dass er zwei Jahre allein gelebt hatte
und mit sich selbst klar gekommen war. Er diskutierte einen langen Abend mit
Karin darüber. Und die Frau, die „bisher nur Affären konnte“, brachte es
schließlich auf den Punkt.
„Weißt du“, sagte sie, „wenn ich es nicht aushalte, mit mir allein zu
leben, wie soll ich das dann mit einem anderen schaffen?“
Knappe vier Wochen nach dem Tod von Ingeborg Lautmann verkündete Karin
beim Abendessen: „Ich hab heute mit Horst und Silke gesprochen. Sie würden sich
freuen, wenn du morgen mitkommst.“
„Gern!“, antwortete Chris schlicht, obwohl er beinahe geplatzt wäre
vor Freude und auch Stolz. Karin bezog ihn damit endgültig in ihr Leben ein.
Horst und Silke Vielhaber waren die Eltern ihres sechsjährigen Patenkindes
Frauke, ihrem „Ein und Alles“, wie sie mehrfach betont hatte. Und am nächsten
Tag war Patenkind-Abend für Karin. So, wie es den Kaffee-Donnerstag für Chris
gab.
Frauke war eine kecke kleine Persönlichkeit. Hellblonde Kräusellocken
und Grübchen in den Wangen gaben ihr den Anschein eines aufgeweckten kleinen
Engels.
Schon nach kurzer Zeit nahm sie vertrauensvoll die Hand von Chris und
fragte: „Du bist jetzt mit Karin zusammen so wie Papi und Mami, nicht? Hat Papi
gesagt!“
Papi lief rot an und wies seine Tochter zurecht: „Stell nicht so
indiskrete Fragen!“
„Was sind undeskrite Fragen, Papi?“
„Indiskret ist, wenn naseweise kleine Mädchen Fragen stellen, die
anderen unangenehm sein könnten.“
Frauke sah Chris an und kaute eine Weile auf ihrer Unterlippe. Dann
entschied sie: „Papi, er sieht aber gar nicht unangenehm aus!“
Chris spürte, wie sich in seinem Bauch ein Lachkrampf zusammenbraute.
Er musste die Zähne aufeinander beißen, um nicht laut herauszuplatzen.
Verstohlen sah er zu den anderen. Karin starrte mit irgendwie verklärtem
Gesicht an die Zimmerdecke, Horst Vielhaber stopfte sich umständlich eine
Pfeife und Silke, die gerade den Tisch deckte, überfiel plötzlich heftiges
Schulterzucken.
Chris bemühte sich um Fassung, denn schließlich erwartete Frauke ja
noch die Antwort auf ihre erste Frage. Und so sagte er mit allem gebotenen
Ernst: „Du hast ganz Recht, Liebes. Wir sind so zusammen wie deine Mama und
dein Papa.“
Später, als sie heimfuhren, drehte Karin sich auf dem Beifahrersitz
zur Seite und starrte Chris an. Eine ganze Weile. Bis er nervös wurde und
fragte: „Was ist denn los?“
„Du siehst wirklich nicht unangenehm aus!“, schmunzelte sie.
Jetzt endlich prustete das Lachen aus ihnen heraus.
„Oh, dieses Kind!“, brachte er irgendwann hervor und wischte sich die
Tränen aus den Augenwinkeln. „Du liebst sie sehr, hm?“
„Sie ist das Kind, das ich nie hatte“, stellte Karin ernst fest.
„Hättest du gerne Kinder?“
„Himmel, nein! Nicht mit Windeln wechseln und so! Es ist wunderbar,
sie zu haben, ein paar Stunden, ein paar Tage. Aber es ist ebenso wunderbar,
die Verantwortung wieder abgeben zu können. — Und du?“
Chris zuckte die Achseln. „Geht mir genauso. Ich hab mich auch nie als
Vater gesehen. Aber mir fehlt das Patenkind als Ausgleich.“
„Jetzt hast du eins! Frauke mag dich, und sie ist ziemlich wählerisch,
glaub mir.“
Dreiunddreißig
Es war
hektisch an diesem Morgen. Sie hatten verschlafen, weil die Batterie des
Weckers sich irgendwann in der Nacht entschlossen hatte, den Dienst zu
quittieren.
Chris hatte um zehn Uhr einen Gerichtstermin, musste aber vorher noch
einige Unterlagen zu Eickboom bringen. Der Sachverständige, der die Mängel an
seiner Eigentumswohnung bewerten sollte, hatte das Gutachten zwar Chris
zugestellt, Eickboom aber vergessen. Und Chris hatte versprochen, dem
vielbeschäftigten Unternehmer eine Kopie zu bringen, damit er sich übers
Wochenende damit befassen konnte.
Karin sollte ab elf Achim und Klaus im Laden ablösen, damit die beiden
einen Notartermin wahrnehmen und danach noch durch die Stadt bummeln konnten.
Eine Gelegenheit, die sich nur ergab, wenn Karin den Laden schmiss.
Chris sollte sie gegen achtzehn Uhr abholen, und dann würden sie mit
Lea im „Mainzer Hof“ das Wochenende einläuten.
Ein flüchtiger Kuss, ein „Ich freu mich auf heute Abend“, das war
alles, was vom Morgen übrig blieb.
Der Tod von Ingeborg Lautmann lag genau fünf Wochen zurück, aber Chris
hatte alles, was damit zusammenhing, in die hinterste Schublade verbannt. Er
war viel zu sehr mit der
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