Fehlschuss
war, konnte dieser zweite Mann hier nur Eickboom sein.
Sie schloss einen Moment die Augen. So nah! Er war die ganze Zeit so
nah gewesen! Und damit war gleichzeitig Chris ihm nahe gekommen. Unbewusst so
nahe, dass Viego ihn umbringen sollte. Und heute? Was war heute passiert? Ihr
Magen krampfte sich zusammen.
Nein, nein! Wenn er Chris suchte, hatte er ihm noch nichts angetan.
Noch nicht!
Die Wut kam ganz plötzlich. Eiskalte, blanke Wut. Da stand der Mann
vor ihr, der zwei Frauen auf dem Gewissen hatte und jetzt hinter Chris her war.
Chris! Ohne zu zögern hätte sie in diesem Moment den Pflasterstein aufgehoben
und zugeschlagen.
Sie versuchte, ihre Wut festzuhalten. Zorn war besser als Angst. Angst
lähmte, halbwegs kontrollierter Zorn setzte Denkprozesse in Gang.
Wenn sie den Gehstock erreichen könnte, der an der Garderobe hing! So
tun, als könnte sie ohne ihn kaum einen Schritt machen. Vielleicht hatte sie
die Chance, ihm eins überzuziehen.
Eickboom überlegte offensichtlich. Starrte ihr mit gerunzelten Brauen
ins Gesicht und dachte nach. Feine Schweißperlen standen auf seiner gebräunten
Stirn.
Ihr war klar, dass er eigentlich nur Chris wollte. Stattdessen war ihm
jetzt die alte Berndorf vor die Flinte gelaufen. Und er konnte nur noch zwei Dinge
tun: Zuerst ihr den Kopf wegpusten und dann Chris. Hart schlug ihr Puls in der
Halsschlagader. Die Wut entglitt ihre beinahe wieder, drohte von neuerlicher
Angst erstickt zu werden.
Plötzlich verzog sich das Gesicht von Eickboom zu einem spöttischen Grinsen.
„Nun gut! Wir beide werden eine kleine Spazierfahrt machen“, sagte er und
lockerte den Druck der Waffe etwas. „Sie werden sich ganz ruhig verhalten.
Keine Zicken! Wir beide gehen jetzt sehr eng aneinander geschmiegt zu Ihrem
Auto. Und glauben Sie mir: Diese Pistole ist währenddessen ganz nah an Ihrem
Herzen. Ganz nah!“
Er ließ sie los, blieb aber dicht bei ihr stehen, die Waffe nur
Millimeter von ihrem linken Rippenbogen entfernt. Instinktiv wollte sie nach
ihrem Stock greifen, zuckte aber im letzten Moment zurück. Der leuchtend blaue
Gehstock war der einzige Hinweis, den sie Chris geben konnte. Er wusste genau,
dass sie ohne diesen Stock keinen Schritt vor die Tür setzte. Wenn er ihn sah,
würde er sich Gedanken machen, Schlussfolgerungen ziehen, bei Achim und Klaus
anrufen, die auf sie warteten … Wenn er ihn sah …
Eickboom folgte ihr auf der Treppe so dicht, dass sie seine
Körperwärme spüren konnte. Im Stillen fluchte Karin. Wäre sie nur beweglicher!
Dann hätte sie vielleicht eine Chance. Ein gesunder Mensch konnte zur Seite
springen, versuchen, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen, irgendwas tun. Sie
jedoch war genug damit beschäftigt, sich einfach nur auf den Beinen zu halten.
Ohne den Stock waren ihre Schritte unsicher, und sie fürchtete ständig, zu
stolpern, hinzufallen.
Er ließ sie auf der Beifahrerseite einsteigen und rüber rutschen.
Wartete geduldig, bis sie das linke Bein über die Konsole gehoben hatte.
Wohin würde er mit ihr fahren? Sie spürte das kalte Metall durch den
dünnen Blusenstoff an ihrer Seite. In den Arloffer Wald? Nein, das war zu
billig! Das war der Stil des Auftragskillers, nicht der von Eickboom, dem
„Zocker“, als den Chris ihn beschrieben hatte. Er würde versuchen, sein Spiel
zu spielen. Nur welches, war die Frage. Mit Sicherheit aber würde er gezinkte
Karten aus dem Ärmel schütteln, beobachten, was der Gegner tat, versuchen, ihn
in die Falle zu locken.
Plötzlich wurde ihr klar, dass Eickboom sie noch brauchte. Nur sie
allein auszuschalten, nützte ihm nichts. Außerdem war er nicht blöd, und die
Tatsache dass sie in der Wohnung von Chris gewesen war, ließ auf ein engeres
Verhältnis schließen. Und jetzt sollte sie der Köder sein. Etwas, das Chris zu
Hochform auflaufen ließ. Sie war das Objekt, das Chris jede Möglichkeit zu einer
eigenständigen Aktion nahm und nur noch Reaktion zuließ.
Er dirigierte sie mit knappen Worten durch die Stadt. Jetzt erst
merkte Karin, wie sehr sie schwitzte. Die Kleidungsstücke klebten auf ihrer
Haut, lähmten ihre Bewegungen. Sie müsste einfach aus dem Wagen springen bei
passender Gelegenheit. Wie ein Tonnengewicht hing die Prothese plötzlich an
ihrem Oberschenkel. Und wieder einmal dachte sie, ohne diesen leblosen Klotz am
Bein, der so viele gute Dienste leistete, wäre sie beweglicher.
Sie fuhren durch enge Straßen, vorbei an einer Schule, deren Pausenhof
voller Kinder war. Der Lärm, den
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