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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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Mund
erreichen könnte. Es juckte erbärmlich.
    Was würde er jetzt tun? Chris auflauern? Ihn mit einem gezielten
Schuss töten?
    Zum wiederholten Mal brach ihr der Schweiß aus allen Poren. Panik
überschwemmte sie bis zur Übelkeit. Chris! Er war so hektisch aufgebrochen
heute früh — und so fröhlich. Hatte sich auf den Abend gefreut, auf das
gemeinsame Wochenende.
    Ihr manchmal so impulsiver Chris! Der so hinreißend lachen konnte,
dass einem das Herz aufging. Der stundenlang reden und genauso lange zuhören
konnte. Der in der Lage war, all die kleinen Wunder, die diese Welt zu bieten
hatte, mit Begeisterung wahrzunehmen. Der zum Vulkan wurde, wenn sie sich
liebten. So wie letzte Nacht.
    Letzte Nacht. War das die letzte Nacht für sie beide gewesen? Heute
Morgen der letzte Kuss? Ahnte Chris, dass Eickboom der Mann aus der Toskana
war? Wusste er um die Gefahr, in der er schwebte? Sie sah ihn in einer
Blutlache liegen, die verzerrte Fratze von Eickboom über seinem wächsernen
Gesicht.
    Plötzlich merkte sie, dass sie weinte, dass einfach Wasser aus ihren
Augen lief. Nicht Bernie, nicht so. Zum Weinen hast du später Zeit genug! Sei
vernünftig, denk nach! Entschlossen schluckte sie Tränen und Rotz hinunter.
    Ganz deutlich hörte sie jetzt ein Poltern über sich. Es war albern,
aber es beruhigte sie, und die letzten Tränen versiegten.
    Wieso hatte Eickboom sie hierher gebracht? Wäre es nicht einfacher
gewesen, sie gleich umzubringen und dann auf Chris zu warten? Benutzte er sie
als Lockvogel? Warum? Und wenn, musste Chris wissen, dass ausgerechnet Eickboom
der zweite Mann auf dem Foto war. Und dann würde er jetzt, in diesem Augenblick
handeln, und er würde vorsichtig sein.
    Nach mehreren erfolglosen Versuchen gelang es ihr, sich aufzusetzen.
Sie ließ die Schultern kreisen. Wenigstens wurde so das Kribbeln in den
Oberarmen weniger. Aber das harte Metallgelenk ihrer Prothese drückte
schmerzhaft gegen den rechten Fußknöchel. Sie konzentrierte sich eine Weile auf
den Schmerz, um die nächste Panikwelle abzuwehren.
    Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass es draußen still geworden war,
dass auch die wenigen weit entfernten Geräusche verstummt waren. Was war los?
Lag sie etwa schon so lange hier, dass jetzt Nacht war? Nein, unmöglich! Oder?
Natürlich — Freitag! Heute war Freitag. Und wer immer es sich von den
Arbeitsabläufen her erlauben konnte, läutete gegen Mittag das Wochenende ein.
War also Mittag? Früher Nachmittag?
    Die Stille wurde erdrückend. Wer würde sie hier finden? Chris? Wann?
Wenn sie verfault und vermodert war? War es das? Hatte Eickboom sich längst
abgesetzt und ließ sie hier verrecken? Sie wollte schreien, aber aus ihrem
zugeklebten Mund kam nur ein leises Winseln. Jetzt erst spürte sie die Kälte und
die Feuchtigkeit, die aus dem Boden in ihre Kleider kroch. Plötzlich fror sie,
klapperte am ganzen Körper. Oder war es doch nur die Angst, die ihre Muskeln
außer Kontrolle geraten ließ?
    Ein leises Trippeln ließ sie aufhorchen. Hoffentlich nur eine Maus. Davor
hatte sie keine Angst. Aber wenn es eine Ratte war …? Sie lauschte angestrengt.
Das Trippeln kam jetzt von der anderen Seite, Rascheln, dann Stille.
    Das Knirschen der Eisentür erschien ihr überlaut. Unwillkürlich hielt
Karin die Luft an, als die Tür aufschwang. Mit Eickboom kam hartes, blendendes
Licht in den Raum.
    Er hatte Jackett und Weste ausgezogen und die Ärmel des weißen Hemdes
bis zu den Ellbogen aufgerollt. Er schien entspannt, ja, beinahe guter Laune.
Mit einem Ruck riss er das Klebeband von ihrem Mund. Es brannte wie Hölle, und
sie schmeckte Blut von der aufgerissenen Lippe.
    „Verzeihen Sie“, murmelte er. „Aber ich konnte doch nicht riskieren,
dass Sie schreien, nicht?!“
    Er zwinkerte ihr zu, als er die Fußfesseln löste und wartete, bis sie
ihr rechtes Bein so lange geschüttelt hatte, dass es ihr wieder gehorchte. Ihre
Hände ließ er auf dem Rücken gebunden, aber er half ihr mit einem überaus
charmanten Lächeln, auf die Beine zu kommen. Ein zuvorkommender, aufmerksamer
Gastgeber.
    Was machte ihn so fröhlich? Hatte er die erste Hälfte erledigt? Chris
erledigt? Übelkeit stieg in ihr hoch. Nicht! Bitte nicht!
    Über eine Hintertreppe führte er sie ins obere Stockwerk der Halle,
drängte nicht, als sie langsam und unsicher nach oben stieg.
    In krassem Widerspruch zu dem nüchternen Äußeren des Gebäudes und dem
modrigen Keller, lagen hier in den gut ausgeleuchteten, hellen

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