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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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hier.“
    Sie ging zu der Kiefernanrichte auf der rechten Seite und deutete auf
eine blaue Tonschale, in der zwei oder drei schmale, goldene Ringe und eine silberne
Anstecknadel lagen. „Alles noch da. Ich wüsste nicht, was ich außer
Hausfriedensbruch und einem kaputten Blumentopf zur Anzeige bringen sollte.“
    Irgendetwas schlug in seinem Kopf Purzelbäume. „Hören Sie …“, setzte
er an, wurde aber gleich unterbrochen.
    „Ich weiß, was Sie sagen wollen: dass das ein verdammter Zufall ist,
oder? Inge beklaut mich vor drei Wochen, dann wird sie totgeschlagen, und zwei
Tage später bricht hier jemand ein, ohne etwas mitzunehmen. Jedenfalls nichts
von Wert, soweit ich das bisher beurteilen kann.“
    „Gerade deshalb sollten wir die Polizei …“
    „Nein!“
    Das „Nein“ kam heftig und eindeutig. Widerspruch zwecklos, Ende der
Diskussion. Basta!
    Chris stellte den Glastisch auf die Beine. Dann drehte er den
kopfstehenden Sessel herum und ließ sich hineinfallen. Augenblicklich versank
er in tiefes Nachdenken. Einen Sinn ergab dieser Einbruch bestimmt. Fragte sich
nur, welchen. Und die zweite Frage war, ob es tatsächlich einen Zusammenhang
gab. Oder ob das alles nur ein irrwitziger Zufall war.
    Er dachte an den Widerling von Zenker, seines Zeichens Staatsanwalt
und äußerst unangenehm. In einem der ersten Prozesse, die Chris führte — er
hatte ihn sang- und klanglos verloren — war Zenker ihm mitten im Gerichtssaal
in die Parade gefahren: „Herr Kollege, Sie sollten sich vielleicht abgewöhnen,
an Zufälle zu glauben.“
    Chris würde diese Szene nie vergessen — und hatte seine Lektion
gelernt. Die Zeiten, wo er noch an Zufälle glaubte, waren längst vorbei. Und
wenn Karin das genauso sah, wieso weigerte sie sich dann …?
    Plötzlich wurde er sich bewusst, dass sie schon eine ganze Weile am
Türrahmen lehnte. Sie drehte nervös am obersten Knopf ihres Polo-Shirts und
beobachtete ihn.
    „Trauen Sie sich zu, in diesem Chaos die Kaffeemaschine zu finden?“, fragte
Chris müde. Mit dampfend heißem Kaffee ließ sich besser denken.
    Karin grinste nur. „Glauben Sie, ich hätte Däumchen gedreht, nachdem
ich Sie angerufen habe?“
    Sprach´s und marschierte in die Küche. Jetzt erst bemerkte Chris den
feinen Kaffeeduft, der im Raum hing. Mit gerunzelten Brauen sah er ihr
hinterher. Sie hielt sich grandios. Viel zu grandios, fand er. Andere wären
schreiend davongelaufen und hätten eine Woche im Hotel übernachtet, tagelang
ihre verwüstete Wohnung beweint. — Karin dagegen kochte Kaffee!
    Was ging hier vor, zum Teufel? Wieso warf diese Frau ihn erst mitten
in der Nacht aus dem Bett und weigerte sich nun, die Polizei zu rufen? Sie
kochte Kaffee und erweckte den Anschein, als ob sie jeden Tag mit
durcheinandergewirbelten Wohnungen zu tun hätte! Oder war das wie das berühmte
Pfeifen im Wald? Verdammt — er wollte eine Erklärung, und zwar eine plausible!
    „Was wird hier eigentlich gespielt?“, fragte er denn auch mühsam
beherrscht, als sie sich gegenüber saßen und Kaffeedampf über den Becherrand
pusteten. „Wieso haben Sie mich angerufen und nicht die Polizei? Was
soll das?“
    Das Gesicht von Karin war plötzlich aschfahl geworden und in ihren
Augen glitzerte es verdächtig. Mit einer müden Handbewegung fuhr sie sich
durchs Gesicht und sagte leise, fast wie zu sich selbst: „Sie verstehen es
nicht, natürlich.“
    Irgendetwas an dieser Bewegung, an diesem Tonfall traf ihn mitten ins
Herz. „Nein“, antwortete er weich, „aber Sie könnten es mir erklären, Karin.“
Wie einfach der Vorname über die Lippen ging.
    Karin hob den Kopf und sah ihm direkt ins Gesicht. „Okay“, sagte sie
dann. Sie schien wieder völlig beherrscht. „Ist eine lange Geschichte. Sie
kriegen ´ne Kurzfassung, ja?“
    Chris nickte nur. Und er bekam seine Erklärung. Die knappe und beinahe
emotionslos vorgetragene Beschreibung der Hölle.
    Manfred Berndorf hatte seine einzige Tochter geprügelt und
missbraucht, seit sie denken konnte. Wann immer ihm danach war, kam er in ihr
Zimmer, schlug sie oder fummelte an ihr herum. Die Mutter war meistens zu
betrunken, um davon etwas mitzubekommen.
    „Bis zu meinem zehnten Geburtstag wusste ich nicht, was Privatsphäre
ist, dass ich ein Recht darauf hatte, `Nein´ zu sagen, dass ich in einem Raum
allein sein konnte, ohne Angst haben zu müssen, es kommt jemand rein und tut
mir weh oder zwingt mich zu Dingen, die ich nicht will. Ich wusste nicht, dass
ich ein Recht

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