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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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darauf hatte, die Zimmertür zu schließen und erst wieder zu
öffnen, wenn ich selbst es wollte.“
    „Ich verstehe“, murmelte Chris.
    „Nein, das tun Sie nicht!“ Ihre Antwort war eine scharfe
Zurechtweisung. „Ich bin noch nicht fertig. An meinem zehnten Geburtstag
sollten abends Verwandte zum Essen kommen. Ich hatte mir Fondue gewünscht, und
auf dem Herd stand schon ein großer Topf mit heißem Fett, damit es nachher
schneller ging. Meine Mutter, die ausnahmsweise mal ziemlich nüchtern war,
hatte alles vorbereitet.“
    Ausgerechnet an diesem Tag schloss Karin sich in ihr Zimmer ein.
Vielleicht, weil sie Geburtstag hatte. Weil Kinder doch an ihrem Ehrentag Sonderrechte
haben. Weil sie dann tun und lassen können, was sie wollen. Weil sie deutlich
machen dürfen, was sie nicht wollen.
    Manfred Berndorf geriet darüber völlig außer sich vor Wut. Er trat die
Tür ein, prügelte seine Tochter, schleppte sie an den Haaren in die Küche. Er
zerschlug einen Stuhl auf dem wimmernden, am Boden liegenden Kind und zog in
seiner Raserei schließlich den Topf vom Herd. Das Mädchen versuchte noch, sich
wegzudrehen. Aber es war nicht schnell genug …
    Karin trug mehrere Knochenbrüche davon und furchtbare Verbrennungen am
linken Bein. Als die Wunden sich dann infolge des unsauberen Fetts entzündeten,
blieb den Ärzten nur noch die Amputation. Die nächsten Jahre verbrachte sie
mehr in Krankenhäusern als in Schulzimmern. Und auch da, im normalen
Klinikalltag, gab es keine Zeit und keinen Raum, der ihr gehörte. Ihr allein.
    Karins Blick verlor sich an irgendeinem Punkt auf der Glasplatte des
Tisches, bevor sie mit dem nächsten Abschnitt ihres Lebens begann. „Ich habe
einige Jahre Therapie gebraucht, um mit mir klarzukommen, mit mir und der
Vergangenheit, um es als unabänderlich, ohne Hass und Verbitterung akzeptieren
zu können. Ich hab mir mein Leben eingerichtet. Dabei habe ich viel gelernt —
nur eins nicht, und ich fürchte, ich werde es auch nicht mehr lernen: Ich
ertrage es nicht, wenn jemand in meinen Raum und meine Zeit eindringt, ohne
dass ich Einfluss darauf habe. Wenn mir jemand nahe kommt, und ich nicht selbst
entscheiden kann, ob ich das will oder nicht. So wie das hier jetzt. Ich … ich
dachte, ich komme nicht klar damit. Deshalb hab ich Sie …“
    Sie brach ab und schluckte schwer. Hatte immer noch diesen Punkt auf
der Tischplatte ins Auge gefasst. Dann schob sie sich eine dieser
widerborstigen blonden Locken aus der Stirn und fügte leise hinzu: „Wenn ich
besser Treppen steigen könnte, würde ich nie und nimmer Parterre wohnen.“
    Chris empfand nichts als Leere im Kopf. Er versuchte, das eben Gehörte
zu erfassen und hatte doch das Gefühl, sich in einem Vakuum zu befinden. Er,
das behütete, verhätschelte Einzelkind, in dessen Leben außer mehr oder weniger
großem Liebeskummer kaum einmal Katastrophen vorgekommen waren. Selbst als er
in der sechsten Klasse eine Ehrenrunde drehen musste, hatte das nur zu einem
mittelschweren Erdrutsch geführt, aber keineswegs zu einem Drama. Für ihn war
alles immer so selbstverständlich gewesen: Die Akzeptanz seiner Eltern wie auch
sein Lebensweg: Schule, Studium, Beruf. Natürlich hatte auch er seine Blessuren
davongetragen. Wer hatte das nicht? Aber das waren harmlose Schürfwunden, die
ihre Zeit gebraucht hatten, um zu verheilen, mehr nicht. Er war nie so tief
verletzt worden, dass ernsthafte Narben zurückgeblieben wären. Weder innen noch
außen.
    Aus seiner beruflichen Praxis wusste er, zu welchen Misshandlungen Menschen
fähig waren. Und er wusste auch, wie viel ein Mensch an Misshandlung aushalten
konnte. Er hatte die Täter verteidigt. Er half den Opfern als Vertreter der
Nebenklage. Das alles jedoch betraf mehr oder weniger Fremde; Details, die in
Protokollen und Prozessakten auf gleichgültigem Papier standen. — Das hier war
anders. Näher. Und er hatte das Gefühl zu ersticken.
    Er fühlte sich so hilflos wie selten in seinem Leben. Was sollte er
jetzt tun? Sagen? Gab es überhaupt Worte? Irgendeine halbwegs passende
Äußerung?
    Ihm war hundeelend zu Mute, als er sich steifbeinig erhob und zu dem
Regal neben der Couch ging. Wahllos griff er zu irgendeinem Weinbrand und
füllte zwei Gläser.
    Dann hockte er sich vor Karin auf den Boden und hielt ihr wortlos ein
Glas hin. Die nahm es ebenso schweigend. Gleichzeitig kippten sie die
goldbraune Flüssigkeit in einem Zug. Schnaps um fünf Uhr morgens war sicher
nicht das Gesündeste, aber

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