Fehlschuss
in einer fast grotesk verzerrten
Aufnahme, die neuen Kranhäuser, die über dem Rhein zu schweben schienen, die
Hohenzollernbrücke bei Nacht mit einem schemenhaft erkennbaren Zug darauf. Ein
paar Frauenportraits, ein Meer aus Wolkenkratzern, offensichtlich New York. Als
Fotografin kam man wohl viel herum.
„Abzüge verwahre ich nur selten“, erklärte Karin plötzlich von der Tür
her.
Obwohl sich Chris fest vorgenommen hatte, es zu ignorieren, und obwohl
es eine so vertraute Kindheitserinnerung war, löste ihr Anblick im ersten
Moment Betroffenheit in ihm aus. Das nach oben geschlagene Hosenbein, das mit
einer Sicherheitsnadel befestigt war, der plötzlich so asymmetrisch wirkende
Körper, die knallroten Krücken, auf die sie sich schwer stützte. — Und er hatte
angenommen, die breiten Schultern kämen aus dem Fitnessstudio!
Umständlich ließ Karin sich neben ihm nieder. Das Poloshirt hatte sie
gegen einen grauen Strickpullover getauscht. „Meistens behalte ich nur die
Negative, und die sind fast alle archiviert. Das spart Platz.“
Jetzt erst fielen Chris Dutzende kleiner, gelber Mappen auf, die
überall verstreut waren. „Können Sie feststellen, ob von den Negativen was
fehlt?“ Es war eine spontane Idee, mehr nicht.
Karin lachte auf. „Oh Himmel — das dauert Tage! Außerdem glaube ich
nicht … Es sind fast alles alte Aufnahmen. Seit zwei Jahren speichere ich nur
noch digital.“
Er merkte auf. Aber sie winkte gleich ab. „Nein, nicht auf meinem
Laptop. Der steht übrigens unberührt auf dem Schreibtisch. Da die Negative mein
Kapital sind, hab ich mir einen absolut sicheren Speicherplatz im Internet
gekauft. Aber da kommt sowieso nicht so viel zusammen. Die meisten Verlage
wollen heutzutage nicht nur die Bilder, sondern gleich auch die Rechte daran.
Das heißt, die Negative. Was hier liegt, ist Jahre alt oder gehört zu meinem
Privatvergnügen. Sehen Sie hier.“ Sie zog ein paar Fotos hervor. „Bretagne, für
einen Reiseführer. Ist fünf Jahre her.“
Plötzlich schien sie in ihrem Element. Ihre Augen leuchteten noch
intensiver als sonst. „Oder hier, Madeira. Ein Jahr später. Es ist manchmal
ärgerlich, die Negative hergeben zu müssen. Aber es bringt auch erheblich mehr
Geld. Costa Brava. Ich hab nie wieder so fantastische Sonnenuntergänge erlebt
wie dort!“
Sie war nahe an ihn herangerückt. Der Duft ihrer Haut war verwirrend
angenehm. Viel zu angenehm für Chris, der seit zwei Jahren keine Nähe mehr
zugelassen hatte. Und das Kribbeln in seinem Bauch nahm und nahm kein Ende.
„Wollen Sie vorsortieren und mir dann sagen, wo alles hingehört?“
Seine Stimme war wie Sandpapier. Er wollte nur noch aufstehen, ein paar Meter
zwischen sich und Karin bringen, damit er wieder zwei und zwei zusammenzählen
konnte. Wenn da bloß nicht diese Kieselaugen wären …
„Gute Idee“, grinste Karin. „Irgendwie sind Sie im Moment besser zu
Fuß als ich.“
Knappe zwei Stunden später sah die Wohnung wieder halbwegs aufgeräumt
aus. Der Boden war zumindest frei, auch wenn in den Regalen noch ein ziemliches
Durcheinander herrschte.
Ob etwas fehlte, wusste Karin jedoch immer noch nicht zu sagen. Und
auch seine spontane Frage, ob Inge vor drei Wochen vielleicht etwas vergessen
hatte, was nun nicht mehr da war, verneinte sie vehement. Inge hatte nichts
zurückgelassen, und außer Geld und Kamera vermisste sie nichts.
Während Karin Frühstück machte, ließ Chris sich telefonisch von Petra
Nix, seiner immer noch einzigen Mitarbeiterin, beruhigen: Der erste Termin war
um elf, JVA Ossendorf. Zeit genug also, in Ruhe zu frühstücken und dann sein
ramponiertes Äußeres auf Büroniveau zu bringen. Ein bisschen Wasser und Seife
könnte er aber jetzt schon vertragen.
„Kann ich mich ein wenig frischmachen?“, rief er in die Küche, nachdem
er aufgelegt hatte.
„Wollen Sie duschen? Handtücher sind im Regal neben dem Waschbecken.
Für Ihren Wildwuchs im Gesicht besitze ich allerdings nicht die richtigen
Gerätschaften.“
Sie stand in der Küchentür und betrachtete ihn mit einem flüchtigen
Schmunzeln. Erst jetzt wurde Chris peinlich bewusst, dass er, so stoppelig wie
er war und mit dem fadenscheinigen Schlabberhemd, als der letzte Penner
durchgehen musste. Und zum wiederholten Mal färbten sich die Ohren von Doktor
Christian Sprenger hochrot.
Als er die Dusche abstellte und sich trocken rubbelte, drang leise
Musik ins Badezimmer. Einen Moment lang stockte ihm der Atem. — Dieser
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