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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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manchmal ungemein beruhigend.
    „Wenn Sie jetzt irgendwas von Mitleid faseln, schmeiß ich Sie raus“,
sagte Karin heiser, ohne ihn anzusehen.
    Das Wort „Mitleid“ brachte sein Gehirn wieder in Gang. Stotternd noch,
wie ein fast abgesoffener Motor, aber immerhin.
    „Ich wollte eigentlich gar nichts sagen“, antwortete er leise, „weil
es nichts gibt, was Ihre Geschichte ändern würde.“
    Wieder einmal erntete er einen langen Blick aus beinahe grau wirkenden
Kieselaugen. Und darin lag etwas, was Chris nicht deuten konnte. Jetzt müsste
sie eigentlich die Hand ausstrecken und seine Wange berühren. Und verdammt — er
hätte nichts dagegen gehabt.
    Aber Karin griff entschlossen nach ihrem Kaffeebecher. „Stehen Sie
auf“, knurrte sie dabei, „ich hasse es, wenn mir Männer zu Füßen liegen.“
    Knisternde Spannung. Sie jetzt in die Arme nehmen, sie …
    Gehorsam stand er auf und setzte sich wieder in seinen Sessel. Nahm
ebenfalls den Becher, dessen Inhalt längst kalt geworden war.
    Lange Zeit schwiegen sie beide, fixierten irgendwelche Punkte auf der
Tischplatte. Chris holte sich all die Statistiken ins Gedächtnis, die inhaltlich
Jahr für Jahr gleich waren. Nur die Zahlen variierten ein wenig. Etwa ein
Viertel der Opfer von Wohnungseinbrüchen nahm früher oder später psychologische
Hilfe in Anspruch, weil das Eindringen eines Fremden in den persönlichen
Lebensbereich ein schweres Trauma verursacht hatte. Die Intimsphäre war auf das
empfindlichste verletzt, den geschützten Raum, den die eigene Wohnung bot, gab
es plötzlich nicht mehr. Viele Opfer fühlten sich, als hätte man sie
splitternackt in einer Fußgängerzone ausgestellt. So oder ähnlich beschrieben
es die meisten. Was musste dieses gewaltsame Eindringen in Raum und Zeit erst
für einen Menschen mit Karins Geschichte bedeuten?
    Nach einer Weile begann Chris zaghaft: „Karin! Ich weiß nicht, wie …“
Er holte tief Luft. „Ich verstehe jetzt, dass Sie das hier besonders fertig
macht. Aber die Polizei sollte es trotzdem wissen.“
    „Ich will nicht, dass mein Leben von unten nach oben gekehrt wird. —
Nein!“
    Irgendwie ahnte Chris plötzlich, dass an ihrem Bericht noch ein Stück
fehlte. Er hatte schließlich nur die „Kurzfassung“ bekommen. Aber er hatte
nicht den Mut, direkt zu fragen. Vielleicht würde es ja mit Argumenten gehen.
    „Hören Sie, wenn das alles mit Inge zu tun hat, dann stecken Sie bis
zum Hals mit drin. Aus welchem Grund auch immer. Und früher oder später …
Karin! Ich habe keine Ahnung, wie ich Sie da raushalten soll!“
    „Ich weiß“, antwortete sie tonlos, ohne aufzusehen. Diese große, so
stark wirkende Frau schien auf einmal keine Kraft mehr zu haben.
    Ohne darüber nachzudenken, übernahm Chris die Initiative. „Okay“,
sagte er. „Wir werden jetzt hier aufräumen, und dabei werden Sie überlegen, ob
etwas fehlt, klar? Ich weiß nicht, was hier gespielt wird, aber je eher wir
dieses Chaos lichten, desto schneller blicken wir vielleicht durch.“
    Irgendwo schienen seine Worte anzukommen. Ihr Körper straffte sich.
Sie grinste sogar, etwas missglückt, aber immerhin. „Endlich haben Sie´s
kapiert“, sagte sie. „Ich habe Sie nur aus dem Bett geholt, weil ich Hilfe beim
Aufräumen brauche.“
    „Ich hab geahnt, dass da irgendwo ein Haken ist!“, stöhnte Chris und
grinste ebenfalls.
    Karin stand mühsam auf und hielt sich an der Sessellehne fest. „Wenn
Sie nichts dagegen haben — ich muss erst das alte Mädchen hier loswerden.“ Sie
klopfte auf ihren linken Oberschenkel und hinkte, ohne seine Antwort
abzuwarten, durch den Flur davon.
    Chris sah ihr nach und schob alles, was mit zehnten Geburtstagen und
deren Folgen zu tun hatte, weit von sich. Darüber konnte er später nachdenken.
Das Wichtigste war erst einmal dieses Durcheinander hier. Er stand auf, zog die
Lederjacke aus und warf sie über die Sessellehne. Dann schlenderte er durchs
Wohnzimmer, klappte mit der Fußspitze ein aufgeschlagenes Buch zu, hob eine
CD-Hülle auf. „Barbra Streisand, One Voice“ — eine seiner Lieblingsscheiben.
Mit plötzlichem Interesse begutachtete er einige andere flache Plastikboxen.
Joan Baez, Mercedes Sosa, Miriam Makeba, Bette Midler, John Miles — Karins
Musikgeschmack war seinem eigenen verdammt ähnlich.
    Im Arbeitszimmer hockte er sich vor einen Papierhaufen in der Mitte
des Raumes. Nachdenklich zog er ein paar Fotografien aus dem Berg. Bilder von
markanten Gebäuden der Stadt, der Messeturm

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