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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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Sopran,
der sich da federleicht erhob, über dem Orchester zu schweben schien, jeder Ton
rein und klar, aus dem Herzen heraus gesungen! Alles hätte er Karin zugetraut,
alles, aber keine Oper, nicht Kiri Te Kanawa. Und wenn das nicht seine eigene
Lieblings-CD war, die er so oft und so laut hörte, dass seine Nachbarn
sicherlich schon längst Verdi- und Puccini-Experten waren, sollte ihn der
Teufel holen. Aber irgendetwas stimmte da nicht. „E strano“ war verklungen, und
danach müsste eigentlich „Se come voi“ kommen. Stattdessen erklang „Timor di
Me“!
    In Windeseile zog er sich an, verfluchte noch einmal seinen Bartwuchs
und stürzte ins Wohnzimmer. Als Karin ihn entdeckte, öffnete sie den Mund, aber
Chris legte nur den Finger an die Lippen. Schweigend lauschten sie den letzten
Tönen von „Timor di Me“.
    „Ich wusste nicht, ob Sie so was mögen“, sagte Karin dann, beinahe
entschuldigend.
    „Kiri Te Kanawa sings Verdi- und Puccini-Arien, John Pritchard, London
Philharmonic Orchestra“, gab er zur Antwort. „Nur die Reihenfolge stimmt
nicht!“
    Karins Lachen gab eine Reihe blitzblanker Zähne preis, als sie sagte:
„Shuffle.“
    „Was bitte?“
    „Shuffle! — Die Zufallsfunktion am CD-Spieler!“
    „Shuffle!“ Chris brauchte ein, zwei Sekunden, um zu begreifen. Dann
jedoch brach er in schallendes Gelächter aus.
    Erst als er den verständnislosen Blick von Karin auffing, bemühte er
sich um Fassung und erklärte, nach Atem ringend: „Oh, Himmel! Das ist wohl der
Unterschied zwischen einem Juristen und einer Fotografin!“
    Karin verstand augenblicklich. „Sie meinen“, schloss sie und stimmte
mit in das Gelächter ein, „Sie meinen, Sie sind noch nie auf die Idee gekommen,
die Reihenfolge zu ändern? So, wie es auf dem Umschlag steht, hat es zu sein
und basta?“
    „Ja!“
    Sie nickte bedächtig. „Daran sollten Sie arbeiten!“
    Und dann lauschten sie beide „Vissi d´arte“, einer Arie, die Chris
gelegentlich das Wasser in die Augen trieb.
    Karin hatte das perfekte Frühstück gezaubert und den Tisch liebevoll
gedeckt. Knusprige Toastscheiben lagen wie ein Fächer in einem Bastkorb, die
Kaffeekanne aus Glas stand auf dem dazu passenden Stövchen, und auf den Tellern
dampfte Rührei mit dicken Speckstreifen obenauf. In einer blauen Vase standen
kleine gelbe Rosen.
    Der Servierwagen parkte jetzt neben dem Esstisch. „Mein Butler,
sozusagen“, erklärte sie.
    „Ich weiß!“
    Chris begann, von Onkel Zimmer zu erzählen, von Tante Zimmer, die oft
lachend gesagt hatte, ein Mann mit nur einem Bein sei völlig in Ordnung, sofern
man nicht Hand in Hand mit ihm durch die Stadt schlendern wollte.
    Und dann hielt Karin ihrerseits einen beinahe medizinischen Vortrag.
Redete über verbesserte Operationstechniken, die Narbenbildung und damit
verbundene Schmerzen zwar nicht ausschlossen, aber immerhin verminderten. Über
leichte und relativ bequem zu tragende Prothesen, über Hüftprobleme und
schließlich über Akzeptanz.
    „Glauben Sie, ich hätte zu Anfang auch nur einen Auftrag ergattert,
wenn ich auf zwei Krücken dahergekommen wäre? Wenn ich den Eindruck vermittelt
hätte, ich könnte nicht mal eine Kamera in der Hand halten?“ Sie biss herzhaft
in ihren Toast. „Heutige Prothesen sind überhaupt kein Vergleich mehr zu den
Dingern, die Ihr Onkel Zimmer noch kennengelernt hat. Trotzdem ist es gerade
für Oberschenkelamputierte nicht einfach, damit umzugehen. Und im Prinzip fühle
auch ich mich wohler und beweglicher ohne mein altes Mädchen. Und ausdauernder
bin ich allemal. Aber darum geht es nicht. Es geht nur darum, was die Leute
wahrnehmen.“
    „Das ist Mist!“, fuhr Chris auf und dachte an die Verkäuferin in der
Bäckerei.
    „Allerdings! Aber wissen Sie, dass es dazu Studien gibt? Danach werden
Beinamputierte als schwerer behindert wahrgenommen, als zum Beispiel
Rollstuhlfahrer. Einfach, weil die Leute nur Äußerlichkeiten sehen. Der Rolli
wirkt heil, im Gegensatz zu Menschen, denen Arme oder Beine fehlen. Wenn ich
ohne das alte Mädchen unterwegs bin, können Sie an fünf Fingern abzählen, wer
mich nicht anstarrt. Aber sagen Sie“, sie beugte sich über den Tisch und
schenkte Chris Kaffee nach, „was ist denn aus Ihrem Onkel Zimmer geworden?“
    „Ich war vierzehn, als seine Frau ganz plötzlich gestorben ist. Drei
oder vier Monate später hat er´s ihr nachgemacht.“ Er biss sich auf die Lippen,
sah die beiden auf dem Balkon sitzen, strahlend, Arm in Arm, als

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