Fehlschuss
hätten sie
sich am Tag vorher erst kennengelernt. „Letztendlich ist er wohl an gebrochenem
Herzen gestorben. — Das klingt jetzt blöd, ich weiß!“
„Gar nicht!“ Karin schüttelte heftig den Kopf. „Wollen Sie die nächste
Musik aussuchen?“
Vierzehn
Er blieb bis
zur letzten Sekunde. Bis er wirklich schon wieder zu spät dran war. Sie waren
ins Plaudern geraten, hatten, wie in einem stillschweigenden Abkommen, weder
Inge, noch den Einbruch, noch Karins Geschichte erwähnt. Sie redeten über alles
Mögliche, entdeckten Gemeinsamkeiten, fachsimpelten über Musik, zu der sie
beide ein romantisches Verhältnis hatten, empfahlen sich gegenseitig Bücher,
streuten Anekdoten aus der Vergangenheit ein und fanden schließlich heraus,
dass sie beide eine schwärmerische Liebe zu Frankreich verband.
Chris hätte ewig frühstücken können und verfluchte still die Zeit, die
natürlich nicht stehenblieb. Die Uhr zeigte ihm deutlich, dass er längst hätte
unterwegs sein müssen.
Zu Hause rasierte er sich erst einmal und tauschte dann Jeans und
T-Shirt gegen weißes Hemd und grauen Anzug. Hans Siebenhahn, ein kleiner
Dealer, der zurzeit in Ossendorf einsaß, wartete ungeduldig auf ihn. Sein
Prozess war in zwei Wochen, und entsprechend nervös wurde er langsam. Aber als
Chris ihm die Abläufe erklärte und ihm sagte, wie er sich vor Gericht verhalten
sollte, beruhigte er sich langsam.
Im Büro saß dann schon der Bodenleger mit den Musterbüchern für den
neuen Teppichboden, der dringend nötig war. Erst letztes Jahr hatte Chris sich
zu neuen Büromöbeln entschlossen. Die Designerin, die ihm der Büroeinrichter
damals schickte, sprach vom „modernen Büro“, von „kühler Eleganz“ und
„Minimalismus“. Er verstand zwar nicht so recht, warum man wackelnde Regale
nicht einfach gegen neue, nicht wackelnde austauschen konnte, ließ sich aber
schließlich auf die Designerin ein. Nur bei der Besucherecke nicht. Hier
brauchte er keine kühle Eleganz, sondern einfach nur gemütliche Polstersessel,
die seinen oft gehemmten und ängstlichen Besuchern das Gefühl gaben, eben nicht bei einem Anwalt zu sitzen. Die restliche Einrichtung war dann das „moderne
Büro“ geworden: Vom Schreibtisch mit der Glasplatte über Regale aus gebürstetem
Edelstahl und heller Buche, bis hin zu zwei Hundertwasser-Drucken, die seinem
Schreibtisch gegenüber hingen. Chris hätte zwar eine Zeichnung von Bruno Bruni
bevorzugt, ähnlich wie die in seinem Wohnzimmer, sah aber ein, dass das für
einen Anwalt vielleicht nicht ganz so passend war. Wie teuer „Minimalismus“
sein konnte, schockierte ihn dann aber wirklich. Deshalb kam der neue
Teppichboden erst jetzt. Er hatte ihn sich einfach nicht mehr leisten können.
Nach einigem Hin und Her entschied er sich für flaschengrüne
Veloursware und schickte den Bodenleger zu Petra Nix ins Vorzimmer. Die führte
den Terminkalender und konnte besser beurteilen, wann er mit der Arbeit
beginnen konnte.
Später tauchte Stefan Eickboom auf, dessen Verhandlung am nächsten
Morgen stattfinden sollte. Jetzt endlich war er nervös, hatte plötzlich Fragen
zum Ablauf, zum Richter, zum Staatsanwalt. Der gelangweilte Schnösel von
Freitag war nun ein einziges Nervenbündel. Eine ziemlich gesunde Reaktion, fand
Chris und erklärte auch ihm geduldig, was er wissen wollte.
Am Nachmittag fand er dann Zeit, in seine geliebte Tageszeitung zu
schauen. Ohne die fühlte er sich nur als halber Mensch. Als es beim letzten
Druckerstreik drei Tage lang keine Zeitung gegeben hatte, war seine Laune so
miserabel gewesen, dass sich seine Mitarbeiterin schließlich bitter beklagt
hatte.
Er holte sich frischen Kaffee aus dem Vorzimmer, rutschte tief in den
Ledersessel und legte die Beine auf den Schreibtisch. Normalerweise las er die
Zeitung immer von hinten. Jetzt aber schlug er gleich den Lokalteil auf. Der
mysteriöse Tod von Inge Lautmann stand auf der ersten Seite. Sie hatten sogar
ein Foto von ihr aufgetrieben, ein lachender Schollmund vor einer blühenden
Hecke. Auf ihr Verschwinden vor drei Wochen wurde hingewiesen und dass die
Polizei Zeugen suchte, die sie seitdem gesehen hatten. Susanne hatte die Presse
offenbar gut gefüttert, und vielleicht brachte dieser Aufruf ja tatsächlich
was.
Chris wollte sich gerade dem Sport widmen, als der kleine Theo
erschien. Vor Überraschung zog Chris die Augenbrauen hoch — Theo trug ein
dezent-unifarbenes Hemd, das ausnahmsweise in der Jeans steckte. Vielleicht
dachte
Weitere Kostenlose Bücher