Fehlschuss
weißt ja: In achtundneunzig Prozent der Fälle spielt sich so was im sozialen
Nahbereich ab.“
Susanne zupfte die Manschetten ihrer Bluse aus den Ärmeln des Blazers.
Die Bluse war gebügelt, aber der Blazer hatte glänzende Stellen. „Wie Tönnessen
gesagt hat, ist sie um den 20. April ohne ein Wort verschwunden. Ich denke, da
gibt es einen Zusammenhang. Und was wir keinesfalls vergessen dürfen: Lautmann
hat dir gegenüber von mehreren Leuten gesprochen. Es kann also durchaus eine
Beziehungskiste sein, bei der einer zweiten Person Aufträge erteilt wurden.“
„Also Tönnessen?“
Susanne zuckte wieder die Achseln. „Eigentlich ist das nicht die Art
von Frauen. Aber man soll niemals nie sagen, nicht? Jedenfalls lassen wir weder
Tönnessen noch Berndorf außen vor.“
„Lass doch Karin Berndorf da raus!“, fuhr Chris auf. „Die ist nun die
Letzte, die …“
„Warum nicht?“, unterbrach sie ihn. „Dieses kleine Luder hat ihr die
geliebte und wertvolle Kamera geklaut, und peng — sie rastet aus, sucht sich
jemanden, der sich statt ihrer die Finger schmutzig macht!“
In seinem Hinterkopf begann es zu kribbeln. Er weigerte sich, das zu
Ende zu denken. Stopfte alles schnell in eine Schublade und knallte das Fach
zu. Laut sagte er: „Mach dich doch nicht lächerlich!“
Die Kommissarin fuhr sich müde mit der Hand über die Stirn. „Hast ja
Recht“, gab sie zu. „Das ist zu dünn, oder? Scheiße, Chris! Ich brauch was
Handfestes. Ein Motiv! Wo war sie diese drei Wochen? Ein paar Freier!
Irgendwas! Namen, Chris! Gib mir Namen!“
„Ich arbeite dran. Aber es ist nicht ganz einfach. Bei so einem
exklusiven Kundenstamm will sich keiner die Finger verbrennen. Wie geht ihr
weiter vor?“
Sie schnaubte unzufrieden. „Was glaubst du wohl? Wir laufen immer noch
mit ihrem Foto durch den Wohnblock an der Mathias-Brüggen-Straße. Wir klappern
jede einzelne Firma ab. Außer diesem Pförtner muss sie doch noch jemand gesehen
haben! Aber bisher ist alles gleich Null.“
Sie warf den Bleistift, den sie die ganze Zeit mit der Hand geknetet
hatte, auf die zerkratzte Schreibtischplatte. „Wir sollten uns auf diese drei
Wochen konzentrieren. Ich hoffe sehr auf unseren Aufruf in der Zeitung. Wenn
wir wüssten, wo sie sich aufgehalten hat, wären wir ein gutes Stück weiter.“
„Hotels, Pensionen“, schlug Chris vor.
„Klar, wird erledigt. Aber ich habe nur drei Leute, Chris, ganze drei
Leute!“
Er machte noch einen kleinen Abstecher zur Sitte und stellte sich dem
Neuen, dem Ersten Polizeihauptkommissar Frank Raumann als juristischen Berater
des „Caribbean Club“ vor. Raumann, ein sympathischer Typ mit dunklem Vollbart
und großer Nase, verstand sofort.
„Und Sie sind der Meinung, wir hätten es etwas übertrieben in letzter
Zeit“, stellte er mit einem breiten Lächeln fest.
„So kann man es nennen, ja“, bestätigte Chris mit einem Lächeln, das
fast noch breiter war. „Gibt es irgendeine Veranlassung dafür?“
„Keineswegs! Alles sauber. Keine Drogen, keine Illegalen. Herr Doktor
Springer …“
„Sprenger!“
„Sprenger, natürlich. — Was erwarten Sie? Soll ich so tun, als gäbe es
diesen Puff nicht?“
„Aber nein! Es ist nur ziemlich geschäftsschädigend, wenn Ihre Leute
zu oft dort auftauchen.“
Chris wusste, dass hier eine Art Achillesferse der Sittendezernate
war. Die Steuern, die der deutsche Fiskus aus dem „Gewerbe“ abschöpfte, waren
nicht unerheblich. Immerhin wurden die Umsätze alles in allem auf über sieben
Milliarden jährlich geschätzt. Und die Sitte bewegte sich immer auf dem
schmalen Grat zwischen Recht und Ordnung und dem reibungslosen Betrieb eines
florierenden Wirtschaftszweigs.
Raumann verzog denn auch säuerlich das Gesicht. „Dann sollten wir
sehen, dass wir ehrlichen und pünktlichen Steuerzahlern keine Knüppel zwischen
die Beine werfen, nicht?“, sagte er, stand auf und reichte Chris die Hand zum
Abschied. „Sofern alles sauber bleibt, natürlich.“
„Natürlich!“ Chris erhob sich ebenfalls und fand, dass der Neue ein
durchaus vernünftiger Mensch war.
Kurz nach sieben war Chris am Severinstor. Auf der Fahrt hatte er
ständig an Susannes abgetragenen Blazer denken müssen. Seit Peters Tod kümmerte
sie sich nicht mehr um Äußerlichkeiten. Dabei war sie eine durchaus attraktive
Frau gewesen. Jetzt aber trug sie ihre Klamotten, bis sie ihr fast vom Leib
fielen und ging erst zum Frisör, wenn ihr das Haar längst in den Kragen
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