Fehlschuss
nahm ihr der Schmerz beinahe die
Luft. Und das machte sie noch zorniger. Zwei, drei Minuten blieb sie in der
Diele stehen, wartete, bis das Atmen leichter wurde, bis das Pochen in ihrem
Beinstumpf nachließ.
Als es endlich aufhörte, lief ihr der Schweiß die Schläfen hinunter,
sammelte sich auf der Oberlippe, unter den Achseln. Nicht mal wütend werden
konnte sie, ohne dass es sie fast zerriss. Nicht mal das!
Den ganzen Tag über und die halbe Nacht erfüllte sie der Zorn bis in
die Zehenspitzen, machte sie benommen, erstickte alles andere. Zorn auf alte Polizeiakten,
die ihr einen Stempel aufgedrückt hatten, den sie nie wieder loswurde. Zorn auf
diese Kommissarin, die nicht verstehen wollte, dass man nicht automatisch zum
Massenmörder wurde, nur weil man vor zwanzig Jahren einen Stein gehoben hatte.
Die den Unterschied zwischen dem verzweifelten Kind und der Erwachsenen nicht
sehen wollte. Die Urteile fällte, ohne den Menschen dahinter zu kennen.
Zorn auf Christian Sprenger, diesen verdammten Schlaumeier, der ihr
erst schöne Augen machte und dann blödsinnige Sprüche von sich gab. Als ob sie
nicht selbst wüsste, dass das Leben kein Sandkastenspiel war. Ausgerechnet sie!
Zorn auf die ganze Welt, die wieder einmal ihre gesammelte
Ungerechtigkeit auf Karin Berndorfs Schultern ablud. Vielleicht wurde es
langsam mal Zeit, sich ein anderes Opfer zu suchen! Sie hatte eigentlich genug
mit dem zu tun, was an ihrem zehnten Geburtstag und die Jahre davor geschehen
war.
Am schlimmsten war jedoch der Zorn auf sich selbst. Sie brachte es
nicht fertig, die Ereignisse anzunehmen, als gegeben abzuhaken und sich anderen
Dingen zuzuwenden. Ob sie nun wütete, trauerte, klagte oder sonst was tat: Es
würde nichts ändern an den Tatsachen. Welche Krankheiten sie auch früher ihrem
Vater an den Hals gewünscht hatte — von Beulenpest bis Lepra — ein neues Bein
war ihr dadurch nicht gewachsen.
Und wie wütend sie auch jetzt sein mochte: Es löschte weder alte
Akten, noch brachte es verbohrte Polizistinnen zur Vernunft. Und es änderte
nichts daran, dass Chris meinte, in einem einzigen Satz seine gesammelten
Lebensweisheiten von sich geben zu müssen.
Am nächsten Morgen war nur noch die Wut übrig, dass Chris ihr immer
noch nicht aus dem Kopf ging. Seit beinahe einer Woche nicht. Kommt einfach
daher mit seiner lässigen Eleganz, diesem atemberaubenden Lächeln und einem
Zartgefühl, das fast schon zum Kotzen ist und nistet sich ein in ihrem Kopf,
ihrem Bauch und allem, was dazwischen liegt. Geistert in ihr herum und hindert
sie daran, ihren Job vernünftig zu machen, weil sie an nichts anderes denken
kann. Nicht einmal jetzt, nach dieser dummen Auseinandersetzung.
Oh ja, es war nett gewesen, zu flirten, Herzklopfen zu haben, diese
flirrende Nervosität zu spüren, die beinahe schon Übelkeit verursachte. Sehr
nett sogar. Nach langer Zeit mal wieder. Sie hatte auch im Prinzip nichts
dagegen, sich zu verlieben. Das war nicht weiter bedrohlich. Manchmal erledigte
sich das schon vor der ersten Nacht, manchmal nach der ersten Nacht, manchmal
nach zwei Monaten, wenn sich herausstellte, dass Topf und Deckel doch nicht
zusammenpassten und zu sehr klapperten. Die wenigen Male, bei denen es wirklich
hätte gefährlich werden können, hatte sie die Flucht ergriffen. Hatte sich
davongemacht und die Geschichte abgehakt, bevor aus dem Verliebtsein mehr
werden konnte. Bevor sie sich völlig öffnen musste. Beziehung bedeutete
Offenheit. Offenheit bot Angriffsflächen, und Angriffsflächen zu haben,
bedeutete wiederum Verletzungsgefahr. So einfach war das gewesen — bis jetzt!
Und was war jetzt? Es war eindeutig gefährlich gewesen mit diesem
Anwalt. Vom ersten Moment an. Wie er da stotternd vor der Tür gestanden hatte.
Es war diese seltsame Vertrautheit, die sich so schnell eingestellt und sie mit
sich fortgerissen hatte. Jesus — Liebe auf den ersten Blick! Das war etwas für
siebzehnjährige Gören!
Wieso hatte sie auch ausgerechnet Chris angerufen in jener Nacht?
Wieso nicht Achim und Klaus, oder Lise, ihre alte Weggefährtin aus den Jahren
bei der Zeitung? Wieso hatte sie überhaupt jemanden angerufen? Zugegeben, sie
war geschockt gewesen, hatte spontan einen Zusammenhang mit Inge vermutet. Aber
mit ein wenig Abstand betrachtet war das absurd. Es hätte doch bedeutet, dass
Inge etwas zurückgelassen hatte, was nun ein anderer haben wollte. Inge hatte
jedoch nichts zurückgelassen. Im Gegenteil: Schließlich hatte sie die
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