Fehlschuss
Kamera
und das Geld geklaut! — Aber Karin Berndorf schrie nach Chris!
Und sie hätte niemals mit ihm essen gehen dürfen. Niemals! Gott, wie
idiotisch! Chris war ein äußerst attraktiver Mann, könnte an jedem Finger zehn
haben. Wieso sollte er sich ausgerechnet für eine einbeinige Elefantenkuh
interessieren?
Sie hätte wirklich früh genug einen Punkt machen sollen. Bevor sich in
ihr etwas entwickelte, was sie nicht mehr steuern konnte und ihr keine
Möglichkeit mehr ließ, den Rückzug anzutreten — „… in deinen Kokon“, vollendete
irgendetwas den Satz. Ihre Verdrossenheit wuchs nur noch mehr, als sie sich
eingestehen musste, dass Chris ins Schwarze getroffen, den Finger auf den
wunden Punkt gelegt hatte.
Rückzug, wenn etwas ihrem Herzen zu nahe kam, das hatte sie ihr Leben
lang praktiziert. Die Verteidigung ihres geschützten Raums. Es war ein
Mechanismus, der immer funktioniert hatte — bis vor ein paar Tagen.
Sie versuchte, sich mit Musik abzulenken. Musik half immer irgendwie.
Das Fatale dieses Mal war allerdings: Egal, was sie auflegte, spätestens beim
dritten Lied fand sie einen Anlass, an Chris zu denken. Sie spielte einen
Sampler ab und konnte bei „When I need You“ nur noch die Stopp-Taste drücken,
die nächste CD brachte bei „The Rose“ das Aus und das „Love Song Album“ von
Joan Baez war nun absolut daneben.
Völlig entnervt packte sie am Samstag in aller Frühe zwei alte
T-Shirts und eine verwaschene Jeans in ihre Reisetasche und fuhr nach
Entenmoos, einem winzigen Nest an der Grenze zu Rheinland-Pfalz. Der Bauernhof
von Sylvia und Mathilde, der hoch über dem Dorf lag, war der einzige Ort, den
sie kannte, an dem man zum Nachdenken keine Zeit hatte. Dafür gab es dort immer
viel zu viele Leute und viel zu viel Arbeit. Das alte Haus mit den dicken
Mauern war ständig überfüllt mit der weitläufigen Familie der beiden Lesben,
Freunden und Bekannten. Alle wurden ihrem Alter und ihren Fähigkeiten oder
Gebrechen entsprechend zu irgendwelchen Arbeiten eingeteilt. Das war die
einzige Bedingung, die sich an einen Besuch auf dem Sonnenhof knüpfte:
Mitarbeit. Ansonsten herrschte das Motto: Wer kam, der kam, und blieb solange
er wollte. Daher hatte Karin sich auch nicht vorher angekündigt. Das war nicht
nur unnötig, sondern fast schon beleidigend.
Als sie durch die Tag und Nacht offene Tür zur Waschküche das Haus
betrat, fand sie einen wilden Haufen beim Frühstück vor. Auf die Schnelle
zählte sie zwölf Köpfe, die bei ihrem Eintreten aufschauten und sie mit lautem
Hallo begrüßten. Die kleine Sylvia mit ihrem „ungarischen Temperament“, wie sie
von sich selbst behauptete, stürmte auf sie zu, reckte sich ein ums andere Mal
auf die Zehenspitzen und küsste Karin überschwänglich auf die Wangen. Mathilde
war die Ruhigere von beiden, hager und hoch aufgeschossen. Ihre lange gebogene
Nase erinnerte an einen Raubvogel, die extrem schlaffe Haut unter dem Kinn
dagegen eher an die schlackernden Kehllappen eines Truthahns. Sie war nicht
weniger herzlich, beließ es aber bei einer langen Umarmung und einem forschenden
Blick. Dieser Frau entging einfach nichts, vor allem keine unausgesprochenen
Stimmungen. Und es gab niemanden, der so tief und so schnell in die
verschlossensten Seelen hineinblickte — das hätte Karin bedenken sollen, bevor
sie hierher fuhr. Aber dafür war es jetzt zu spät.
Von irgendwo wurde ein Stuhl geholt, und die Leute rückten um den
langen gescheuerten Tisch näher zusammen. Einer von Sylvias Brüdern, ein
bärtiger, langer Kerl, rief: „Komm setzt dich her! Wir tratschen gerade!“
„Ich dachte, das tun nur Frauen“, gab Karin lachend zurück und ließ
sich auf dem Stuhl nieder. Ein Becher mit heißem Kaffee wurde über den Tisch
gereicht, von der anderen Seite gab es einen Teller, duftende Brötchen und
einen Steinguttopf mit Marmelade. Und in Sekundenschnelle war sie in ein
heiteres Geplänkel verwickelt, ob nun Männer oder Frauen klatschsüchtiger
waren. Beinahe ebenso schnell rückten Kokons und gutaussehende Anwälte ein
wenig in den Hintergrund. Auf dem Sonnenhof drehte sich fast alles um die
pralle Gegenwart. Um Jahreszeiten, Wetterbedingungen, Ernten und Mastgewichte.
Für den schalen Geschmack der Vergangenheit, oder den zuckrigen Guss der
Zukunft war kein Raum.
Irgendwann schob Sylvia ihren Stuhl zurück und teilte mit energischen
Worten die Mannschaft ein. Ihrer Organisation widersprach niemals jemand, nicht
einmal Mathilde. Und
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