Fehlschuss
so wurden Sylvias Brüder dazu ausersehen, den Schafen die
Hufe zu schneiden. Drei Patenkinder und die dazu gehörenden Mütter sollten den
Hühnerstall ausmisten, und zwei ältere Männer, die Karin nicht kannte, mussten
mit Sylvia das Essen vorbereiten. Die beiden waren offensichtlich nicht mehr
gut zu Fuß, was beim Kartoffelschälen und Gemüseputzen aber nicht weiter
wichtig war.
Karin und Mathilde wurden mit dem Traktor rausgeschickt, um eine
weiter entfernte Weide neu einzuzäunen. Ihr wäre es lieber gewesen, nicht mit
der hellsichtigen Mathilde allein zu sein, aber auch Karin wagte nicht, Sylvias
Entscheidungen in Frage zu stellen.
Mathilde holte das letzte aus dem alten Trecker heraus, fuhr mit
Höchstgeschwindigkeit über holprige Feldwege und hinterließ eine weithin
sichtbare Staubwolke. Der Anhänger schlingerte hin und her, und die Zaunpfähle
darauf hüpften und rumpelten. Karin, die auf dem Notsitz über dem rechten
Hinterrad saß, spürte jedes Schlagloch bis ins Gehirn und atmete erleichtert
auf, als sie endlich anhielten.
Schweigend machten sie sich an die Arbeit. Karin zog die Pfähle vom
Hänger, die dann von Mathilde mit wuchtigen Hammerschlägen in die Erde gerammt
wurden. Als nächstes hatte Karin den Spanndraht des Knotengeflechts
festzuziehen, während Mathilde die Halteklammern ins Holz trieb.
Es war ein klarer, warmer Tag, der nach Sommer duftete. Die Sonne
prickelte in Karins Genick, über ihr wölbte sich ein glasklarer Himmel, die
hoch stehenden Wiesen wirkten wie leuchtend gelbe Löwenzahnmeere. Die von Blüte
zu Blüte trudelnden Hummeln, der schreiende Bussard über ihnen, der fette,
duftende Boden unter den Sohlen — wie so oft hätte sie heulen können bei all
dem. Einerseits, weil die Erde ihre Geschenke so reich verteilte, andererseits,
weil die Menschen nicht in der Lage waren, diese Geschenke zu würdigen.
„Jetzt zieh an!“, befahl Mathilde und versenkte eine weitere Klammer
im Holz. Das mit grauen Fäden durchzogene Haar klebte feucht in der Stirn.
„Willst du reden?“
„Nein“, antwortete Karin kurz angebunden. Die ältere Frau nickte nur,
ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
Still arbeiteten sie weiter. Die Sonne stieg höher, und Mathilde
wischte sich mit dem Ärmel ihres karierten Hemdes immer öfter den Schweiß vom
Gesicht. Aber sie gönnte sich und Karin noch keine Pause. Die Weide war groß,
und sie würden sicher auch noch den ganzen Sonntag brauchen, um den Zaun fertig
zu bekommen. Warum eigentlich nicht?, überlegte Karin. Sie würde sich zwar
spätestens heute Abend nicht mehr rühren können, aber dann lenkte sie
wenigstens der körperliche Schmerz ab — von dem anderen, der tiefer lag.
Irgendwann begann Mathilde Schlager zu singen, einfach so, nach dem
Motto „Mit Musik geht alles besser“. Karin sang mit und spürte die Hitze und
das mit Schweiß vollgesogene T-Shirt nach einer Weile nicht mehr. Die
rebellierenden Muskeln, die schmerzhaft gespannte Haut wurden unwichtig. Sie
grölten sich durch das ganze Repertoire alter Kamellen. Udo Jürgens war ebenso
vertreten wie die Beatles und Zarah Leander. Einmal begann die eine und die
andere fiel mit ein, dann wieder war es andersherum. Manchmal war der Text
nicht präsent, was mit Summen und Lachen überbrückt wurde, bis wieder eine
Stelle kam, die im Gedächtnis war.
Als Mathilde jedoch „Ganz Paris träumt von der Liebe“ anstimmte,
schnürte es Karin irgendwie die Kehle zu. Das mochte sie beim besten Willen
nicht singen, eigentlich nicht einmal hören.
Noch vor der zweiten Strophe fiel Mathilde ihre Schweigsamkeit auf und
verstummte. Krachend flog der Hammer auf den Holzpfahl. „So ist das also“,
ächzte sie, „dich hat´s unglücklich erwischt!“
„Nein, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben glücklich!“ Die Worte
waren einfach so aus Karin herausgefallen. Einfach so.
Mathilde ließ den Hammer sinken. „Und wieso bist du dann hier?“,
fragte sie irritiert, brach aber gleich darauf in schallendes Gelächter aus,
konnte sich kaum beruhigen. Die schlaffe Haut unter dem Kinn schlackerte dabei
hin und her.
„Ich verstehe“, sagte sie dann, immer noch glucksend, „dir geht der
Arsch auf Grundeis!“
Als Karin schwieg, stützte sie sich schwer atmend auf den langen
Hammerstiel und sagte eindringlich, beinahe wütend: „Herrgott, Karin! Lass doch
endlich mal los! Stürz dich in das tollste Abenteuer, das dir das Leben bieten
kann. Lass dich fallen!“
„Und wenn ich nicht
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