Fehlschuss
aufgefangen werde?“, fragte Karin, ohne
aufzusehen.
„Was willst du? Eine schriftliche Garantieerklärung?“ Mathilde warf
den Hammer zu Boden und ließ sich im Gras nieder. „Außerdem wärst du nicht die
Erste, die es überlebt, wenn sie auf den Hintern fällt. Komm, setz dich mal
her!“
Widerstrebend kam Karin der Aufforderung nach. Sie hatte für diese
Woche schon genug Weisheiten gesammelt. Mehr brauchte sie wirklich nicht.
Aber Mathilde ließ nicht locker. „Was ist? Hast du Angst, er sagt dir
nach drei Tagen, dass er sich das Leben mit einem Krüppel doch anders
vorgestellt hat?“
Eine weitere Schöpfkelle aus dem Meer der Zweifel, in dem Karin
schwamm. Sie gab keine Antwort.
„Aha! Und wenn er das nicht tut und aus euch was werden soll, wirst du
deinen auf Hochglanz polierten Panzer ablegen müssen, stimmt´s? Und du bietest
jede Menge Angriffsflächen!“
Die nächste Kelle. Eine, die schwerer wog als die erste. Fahr zur
Hölle, Mathilde, und mit dir dein messerscharfer Verstand!
„Findest du nicht, ich hab genug abbekommen?“, murmelte Karin und
stieß ihre Schuhsohle in eine Grasnarbe. „Das reicht eigentlich für zwei
Leben.“
„Stimmt!“, bestätigte die ältere Frau. Sie legte ihre Hand auf Karins
Arm und setzte leise hinzu: „Aber nicht in jedem Mann steckt dein Vater.“
Das war die letzte Kelle. Die bitterste. Die, die den Sand vom Boden
kratzte. Karin kniff die Augen zusammen. Gegen die Sonne natürlich, nur gegen
die Sonne …
Am Montagmorgen fuhr sie zurück nach Köln. Gelassener, deutlich
ruhiger. Sie hatte natürlich keine Gelegenheit gehabt, großartig nachzudenken.
Dafür war sie viel zu sehr mit Holzpfählen, Spanndrähten und ihrem Bein
beschäftigt gewesen, das seit Samstagabend jede Bewegung mit dumpfem Schmerz
quittierte. Auch das war Mathilde nicht entgangen, aber sie ignorierte es, nahm
ihr nicht einen Pfahl ab. Und Karin war ihr beinahe dankbar gewesen dafür.
Wenn auch zum Grübeln keine Zeit gewesen war — eines hatte dieses
kurze Gespräch bewirkt: Sie lief nicht mehr im Kreis. Sie war aus dem
Hamsterrädchen, das sie immer wieder zu den gleichen Fragen und Ängsten geführt
hatte, ausgestiegen. Mathilde hatte ihre sensiblen Finger genau auf die
schmerzenden Punkte gelegt und ausgesprochen, was Karin nur in einem
versteckten Winkel ihres Gehirns zu denken gewagt hatte. Nun konnte sie nicht
mehr daran vorbeisehen. Der so oft erprobte und bequeme Rückwärtsgang klemmte
nicht nur — er war kaputt. Es ging bloß noch vorwärts, und Karin blieb einzig
und allein, das Tempo zu bestimmen.
Es waren bittere Pillen, und die letzte hatte Doktor Mathilde ihr noch
beim Abschied verpasst. Karin saß schon im Wagen, als sie sich zum geöffneten
Fenster herunterbeugte und leise sagte: „Du könntest langsam mal anfangen, dich
selbst zu mögen. Macht das Leben wesentlich leichter.“
Sie tätschelte den Arm von Karin und fügte hinzu: „Weißt du, Kafka hat
mal gesagt: `Verbringe die Zeit nicht mit der Suche nach einem Hindernis. —
Vielleicht ist keins da!´“
Die leere Weinflasche und der Berg verbogener Kippen im Aschenbecher
erinnerten sie Dienstag früh deutlich daran, wie sie einen Großteil der Nacht
verbracht hatte. Hundert Mal, tausend Mal hatte sie versucht, sich Mut zu
machen, zum Telefon zu greifen, Chris anzurufen. Und tausend Mal hatte sie
wieder die Angst gepackt.
Sich selbst mögen, dachte sie zweifelnd, als sie nach dem Duschen in
den Spiegel schaute. Das Bild ihres zerstörten Körpers verschwamm plötzlich.
Herrgott, was war jetzt wieder los? Waren die Zeiten, in denen sie um sich
geweint hatte, nicht längst vorbei? Wenn „sich selbst mögen“ so anfing, wollte
sie es vielleicht doch lieber nicht probieren.
Dienstagnacht lag sie auf dem Bett, dachte an Kafka und war wild
entschlossen! Was hatte sie schon zu verlieren? Und solange sie blöd herumsaß,
würde nichts passieren. Nichts! Sie würde bis in alle Ewigkeit warten, wenn sie
darauf hoffte, dass Chris den Anfang machte. Denn erstens war Christian
Sprenger ein mindestens ebenso großer Dickschädel wie sie selbst. Und zweitens
war er sensibel genug, um zu wissen, dass sie zunächst mit sich ins Reine
kommen musste.
„Du musst was tun, Alte“, murmelte sie gerade vor sich hin, als das
Klingeln des Telefons ihr durch Mark und Bein fuhr. Verstört schaute sie auf
den Wecker neben dem Bett. 3:54 Uhr. Bestimmt so ein Stöhner, der sich
irgendwelche Namen aus dem Telefonbuch
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