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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Tabunowa
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Rubel. Als ich letztes Jahr klamm war, wurde ich auch Spender, allerdings von Blut. Für fast einen halben Liter (und der Mensch hat nur etwa fünf Liter Blut) bekam ich ungefähr vierhundert Rubel, einen Becher süßen Tees und ein Stück Zwieback. Und das, obwohl man nur alle drei Monate Blut spenden kann, Sperma hingegen jeden zweiten Tag.
    Das bedeutet also, dass die noch ungeborenen Menschenwesentlich wertvoller sind als die bereits existierenden.
    Ich erkenne darin die Vorherrschaft des Geistes über die Materie.
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    19. Oktober 2003
Erziehungsfragen
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    Veras Urgroßvater kam zu uns zu Besuch. Er schaute sie an und spuckte dreimal aus, damit sie gesund bleibe. Als Geleitwort sagte er, sie solle keinen Unfug treiben, sonst bekäme sie eins auf den Hintern. Er erzählte eine Geschichte aus seiner Erziehungspraxis mit seinen Enkeln, meinen Cousins und Cousinen.
    Â»Sergej und Nastja waren beide fünf Jahre alt. Ich sollte auf sie aufpassen. Sie spielten im Zimmer und ich las im anderen. Solschenizyn. Ich merkte, dass etwas nicht stimmte, aus dem Nachbarzimmer kam weder Geheul noch Geschrei. Ich ging hin, da hatten diese Aasgeier den geflochtenen Kranz auseinandergenommen und stopften die Halme in die Steckdose! Da kamen auch schon die Eltern dazu und versohlten ihnen den Hintern. Richtig so! Und wenn sie nun Nägel in die Steckdose gesteckt hätten? Dann wären auch noch neue Steckdosen fällig gewesen!«
    Â 
    21. Oktober 2003
Freude
    Â 
    Ständig ist meine Mutter gerührt.
    Â»Ira, schau doch mal, wie sich das Kind über dich freut, wie Vera dich begrüßt! Über niemanden freut sie sich so, niemandem lächelt sie so zu!«
    Wenn Sie dieses gefräßige Grinsen sehen könnten und wie sich Vera dabei ungeduldig die Lippen leckt.
    Â 
    24. Oktober 2003
Die Grippe
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    Ich bin krank. Ich niese, schniefe. Ich stille Vera und trage dabei einen Mundschutz. Ich glaube, Vera erkennt mich nicht. Deswegen lacht sie auch so froh.
    Â 
    26. Oktober 2003
Milch und Blut
    Â 
    Habe die Aufzeichnungen aus dem Tagebuch von Lidija Ochapkina gelesen, die mit zwei kleinen Kindern im härtesten Monat Januar im blockierten Leningrad war, ohne irgendwelche Essensvorräte, ohne Brennmaterial, ohne Sachen (alles was sie hatte, hatte sie bereits im Dezember gegen Lebensmittel getauscht).
    Â»Meine Ninotschka weinte ständig, lange und gedehnt und konnte nicht einschlafen. Ihr Weinen war wie ein Stöhnen und brachte mich schier um den Verstand. Damit sie einschlief, ließ ich sie mein Blut saugen. Längst hatte ich keine Milch mehr in der Brust, ja ich hatte überhaupt keine Brüste mehr, sie waren verschwunden. Deshalb stach ich mir mit einer Nadel über dem Ellenbogen in den Arm und legte die Kleine an diese Stelle. Sie saugte leise und schlief ein. Lange konnte ich keinen Schlaf finden …«
    Was das bedeutet? Dass auch Männer einen Säugling ernähren können. Und warum machen sie es dann nicht? Wollen sie nicht oder wissen sie es nicht? Ich kenne nur einen jungen Vater, der diese Fütterungpraktiziert. Wann immer man ihn nach seinem kleinen Sohn fragt, antwortet er: »Der saugt mir das Blut aus.«
    Â 
    28. Oktober 2003
Eisbaden
    Â 
    Es ist schon fast Winter. Ich denke, dass Vera sich abhärten sollte. Sonst wird sie kränkeln, husten und niesen und mich dabei stören, mich literarisch auszuleben.
    Ich weiß allerdings nicht, wie man Kinder abhärtet. Vielleicht sollte ich versuchen, sie in ein Eisloch zu werfen und sie dann mit einer Angel wieder herausziehen. Aber dafür brauche ich eine gute Spinnangel, sonst muss ich am Ende noch selbst hineinspringen und sie wieder rausholen. Was tun? Keine Ahnung …

Erinnerungen an den vierten
Schwangerschaftsmonat.
Die Trennung
    Im vierten Monat fing mein Bauch an zu wachsen. Kann sein, dass die zukünftige Vera mich da zum ersten Mal von innen getreten hat, ich erinnere mich nicht.
    Aber ich weiß noch, dass ich mir immer ein und dieselbe Frage stellte. Liebe ich dieses Kind? Oder nein, werde ich es lieben können?
    Ich hasse mich selbst. Das Kind ist ein Teil von mir. Wie werde ich da das Kind lieben können?
    Schwangere haben einen Haufen Ängste und sind abergläubisch. Sie stricken nicht, kaufen keine Kindersachen, heben die Hände nicht über den Kopf und lassen sich nicht die Haare schneiden.
    Irgendwann im vierten Monat wollte ich mir unbedingt

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