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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Tabunowa
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die Haare von rotbraun zu blond färben. Die Ärzte verboten es – die toxischen Stoffe des Färbemittels hätten durch die Poren dringen und das Kleine schädigen können. Ich war völlig aufgebracht.
    Â»Aber Ira, du siehst auch so hervorragend aus, mir gefallen deine Haare sehr gut.«
    Â»Das sagst du nur, um mich zu beruhigen. Ich weiß schon, dass ich scheußlich aussehe …«
    Â»Das stimmt nicht. Du bist sehr anziehend. Die Schwangerschaft steht dir. Liebste, du bist nicht von billiger klassischer Schönheit, du bist auf eigene Weise schön.«
    Â»Das sagst du zu allen deinen Frauen.«
    Â»Na und? Ehrlich gesagt, finde ich alle Frauen schön, wenn sie lächeln und auf besondere Weise schauen, von unten nach oben. Das sage ich immer ganz offen.«
    Zu dieser Zeit fing Veras Vater an, Gedichte aus der weiblichen Perspektive zu schreiben. Um sich einzufühlen, holte er sich nach und nach alle möglichen Sachen aus meinem Schrank: Jeans, Pullis, T-Shirts. Dann machte er sich an die Unterwäsche …
    Am meisten hatte mein BH zu leiden, der an der Heldenbrust von Veras Vater platzte.
    Meine Freundin Olga fragte mich am Telefon:
    Â»Warum hat er ihn überhaupt angezogen?«
    Â»Um sich einzufühlen. Er ist damit zum Aikido-Training gegangen.«
    Â»Er hat doch ein gebrochenes Bein und geht auf Krücken!«
    Â»Er wollte einfach nur seine Freunde besuchen, den Staub der Kampfmatten einatmen. Im Kimono rumlaufen. Immerhin macht er schon neun Jahre dieses Karatezeug …«
    Â»Und wozu hat er den BH angezogen?«
    Â»Weil ihn die Reaktion darauf interessiert hat, wahrscheinlich. Er hat sich im Umkleideraum den Pulli ausgezogen, und darunter trug er meinen BH . Er sagte, er käme gerade von einer Frau, mit der er ungewöhnlichen Sex hatte.«
    Â»Und die anderen? Haben die ihn beneidet?«
    Â»Nach seinen Worten, ja. Das Schlimmste ist, dass dieser BH der einzige war, der mir noch gepasst hat. Jetzt muss ich mir einen neuen kaufen. Ein paar Slips werde ich auch gleich mitnehmen.«
    Â»Was denn, trägt er etwa auch deine Slips?«
    Â»Hm. Er hatte nur drei Shorts, zwei hat er im Krankenhaus gelassen …«
    Â»Und die dritte?«
    Â»Die dritte ist eine ganz nette Boxershorts. Ich trage sie zu Hause.«
    Â»Verstehe …«
    Veras Vater nahm seine lyrische Begabung wirklich sehr ernst. Er lag lange im Bett, seine muskulösen Arme hinter dem Kopf verschränkt, und schrieb Gedichte wie von einer Frau. Seine glatt rasierten Achseln sahen dabei aus wie zwei gewölbte Kinderstirnen.
    Nach seinen Worten hat jeder Mann eine innere Frau, nur schläft sie beim einen, und beim anderen führt sie ein aufregendes Leben.
    Â»Auch du, Ira, hast einen inneren Mann, so wie ich eine Frau. Du suchst bloß nicht nach ihm.«
    Â»Ich suche meine Pinzette für die Augenbrauen. Hast du sie schon wieder genommen?«
    Â»Ja. Ich habe damit das Diskettenlaufwerk repariert. Ira, du lobst mich gar nicht, ich kann mittlerweile alles. Und dazu schreibe ich auch noch Verse.«
    Â»Statt Gedichten hättest du mir Cash geben sollen, von mir aus auch ohne Autogramm.«
    Â»So ist das immer. Die Frau verkauft ihren Körper an den Mann für den schnöden Mammon und den Schutz vor wilden Tieren! Na gut. Ich habe vergessen, dir etwas zu sagen. Ira, wir kriegen heute Besuch.«
    Â»Was für einen Besuch?«
    Â»Ira, spiel dich nicht so auf. Ganz normale Gäste: eine Mutter mit ihrer Tochter. Für dich als künftige Mutter wird die Unterhaltung mit ihr sicher sinnvoll sein.«
    Â»Ich will keine Gäste! Ich möchte hier allein sitzen und mein Buch lesen.«
    Â»Ira, du bist ein grässliches Heimchen geworden, was ist bloß los mit dir?«
    Â»Ich weiß nicht, aber es fällt mir schwer, mich mit anderen zu unterhalten. Sogar mit dir. Ich komme mir vor wie mumifiziert. Die Welt um mich wird immer enger. Meine Interessen schrumpfen.«
    Â»Siehst du, wie vielfältig ich dafür geworden bin? Ich bin Eisbader und meine Gedichte werden im Netz veröffentlicht. Und auch für Freunde habe ich Zeit! Und du? Sitzt nur da und erwartest ein Kind.«
    Â 
    Die Gäste waren eine Frau mit einer Gitarre und ihre fünfjährige Tochter. Zusammen mit Veras Vater sangen sie die ganze Nacht lyrische Lieder aus dem Singeklub. Veras Vater flüsterte mir in den Pausen zu, dass die Frau lesbisch

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