Fehlt noch ein Baum
den Bauch und versuchte heraus-zufinden, ob diese Musik meiner Tochter gefällt oder ob sie ihr im GroÃen und Ganzen gleichgültig ist.
Die ersten neun Monate seines Lebens hört der Mensch den gleichmäÃigen und ununterbrochenen Rhythmus des Herzschlags seiner Mutter. Sein kleines Herz schlägt im ständigen Duett mit dem groÃen lauten Mutterherz. Wenn der Mensch geboren wird, verliert er diese vertrauten Rhythmen. Besonders rhythmische Musik erinnert ihn daran und ruft ihm das Leben im Mutterleib ins Gedächtnis zurück. Die Urvölker tanzen stundenlang, ohne zu ermüden, zum Trommelschlag und vergessen dabei den eigenen Herzschlag.
Die Schamanen fallen beim Schlagen des Tamburins in Trance. Es ist ja kein Geheimnis, dass ein ausgeprägter Rhythmus einen in Trance versetzen kann.
In der Musik vereinen sich beide Rhythmen miteinander, die des Instruments und die des Menschen. Vielleicht verbinden sie sich manchmal auch nicht â liegt darin die Erklärung für unsere vollkommen intuitive Ablehnung bestimmter Musikstile?
Die moderne Tanzmusik ähnelt in vielem dem Schamanismus. Dank des Rhythmus erfahren die Menschen erneut das Paradies des Mutterleibs, genauer, die Illusion dieses Paradieses. Das ist keine Rückkehr in die Kindheit. Es ist die Rückkehr zum ungeborenen Zustand. Eine völlige Aufgabe der Selbstkontrolle im Austausch gegen den Rhythmus eines pseudomütterlichen Herzens.
Willst du erwachsen sein, dann verschlieÃe deine Ohren.
Und die Musiker sind dämonische Manipulatoren.
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SchlieÃlich kam Olgas Sohn zurück. Ich musste mir schnellstens eine neue Unterkunft suchen. Warum mietete ich keine Wohnung? Immerhin hatte ich damals Geld â zehntausend Eurolein, mein Anteil. Ich weià es nicht. Die Logik der Schwangeren ist nicht einmal mir begreiflich, die ich mich in diesem Zustand befunden habe. Ich versuchte, einen Makler anzurufen, aber da hätte man hinfahren müssen, sich mit dem Makler treffen und mit den Hausbesitzern einigen müssen ⦠AuÃerdem vergaà ich ständig alles.
Meine Zerstreutheit nahm schon fantastische Züge an. Damals fiel mir auf, wie ehrlich unsere Verkäuferinnen sind. Jedes Mal, wenn ich vergaÃ, beim Einkaufen das Wechselgeld an mich zu nehmen, wurde ich sofort daran erinnert. Vielleicht stand mir die Bedürftigkeit ins Gesicht geschrieben? Denn der Bauch war noch ganz klein und unter einer Jacke kaum zu sehen. Ich lief immer noch in Jeans und einem weiten Pullover herum, unter dem man meine geöffnete Hose nicht sehen konnte.
Ich wurde asozial. Ich brauchte nur eine Höhle und wollte nicht mit Fremden kommunizieren. Deswegen rief ich in dieser Zeit ausschlieÃlich enge Freunde an, die mir keine überflüssigen Fragen stellten.
Und genau da traf ich Stass.
Er fiel buchstäblich vom Himmel, als ich in einer Telefonzelle am Kursker Bahnhof eine Telefonnummer wählte. Es war die Nummer einer weiteren Freundin, bei der ich meinen Körper ablegen wollte, doch sie war katastrophalerweise unerreichbar. Als ich die Nummer, die ich bereits auswendig konnte, zum wiederholten Male wählte, dachte ich schon an eine Ãbernachtungsmöglichkeit im Bahnhof.
»Junge Frau, könnten Sie mir Ihre Telefonkarte für fünf Minuten borgen?«
Vor mir stand ein junger Mann in einer Bikerjacke, der sich gerade so auf den Beinen halten konnte, und lächelte. Sein Atem desinfizierte alles im Umkreis von einem Meter. Seine Nase war schief. An seinem Wangenknochen gilbte ein Bluterguss, der eine Woche alt sein mochte.
»Nicht für fünf Minuten, aber für eine, bitte.«
»Danke.«
Der Held lehnte sich gegen die Wand und versuchte, die Karte ins Telefon zu stecken. Es klappte nicht. Daraufhin gab er sie mir zurück.
»Darf ich mich vorstellen. Ich heiÃe Stass, und du?«
»Ira.«
»Ira, es war sehr nett von dir, dass du mir deine Karte geliehen hast. Brauchst du etwa eine Bleibe?«
»Wie hast du das denn erraten?«
»Ich bin ein scharfsinniger Typ. Wenn du willst, kannst du bei mir übernachten.«
»Einfach so?«
»Warum denn nicht? Kann doch sein, dass ich mich auf den ersten Blick in dich verliebt habe. Dass ich heiraten will â¦Â«
»Du wirst nicht heiraten.«
»Wieso? Ich werde.«
»Ich bin schwanger.«
»Ja und, dann ziehen wir das Kind eben gemeinsam auf. Lass uns gehen, es ist kalt. Hast du
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