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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Tabunowa
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die Beleidigung der eigenen Person. Der Mutterkult ist fest in der Gefängnisfolklore verankert. Hier sind einige Phrasen aus Stass’ Repertoire, meines verhinderten Ehemanns:
    Â»Freispruch kann mir im Leben nur meine Mutter geben.«
    Â»Nur die Mutter liebe ich, denn nur die Mutter wartet auf mich.«
    Â»Bin ich im Bau, wartet nur Mutter, die einzige Frau.«
    Â 
    Nach einer weiteren schlaflosen Nacht mit Gefängnisgeschichten packte ich also meine Sachen und floh aus der gastfreundlichen Wohnung. Aus Zerstreutheit vergaß ich mein Geld, das ich vorsorglich unter Stass’ Bett versteckt hatte. Als ich am nächsten Tag bei ihm klingelte, wurde mir die Tür von Leuten in Uniform geöffnet. Im Flur half Stass’ Mutter ihrem Sohn, die Schuhe anzuziehen, weil er es mit Handschellen nicht hinbekam.
    Unter den verständnisvollen Blicken der Mutter und von Stass sagte ich, ich habe mich in der Tür geirrt. Als Antwort auf die drängenden Fragen griff ich mir an den schwangeren Bauch.
    So blieb ich ohne Geld. Aber auch ohne Mann.
    Â 
    1. Dezember 2003
Speichel
    Â 
    Vera hat einen Zettel mit einer sehr wichtigen Telefonnummer gegessen. Sie hat ihn zwar nicht aufgegessen, aber ordentlich durchgekaut. Ich hatte sie auf dem Schoß, während ich am Computer saß, und sie griff sich die Notiz und steckte sie sich in den Mund. Die Tinte zerfloss augenblicklich. Ist es möglich, dass Vera einen dermaßen ätzenden Speichel hat?
    Warum ich das schreibe? Falls jemand von Ihnen irgendeinen Stempel entfernen will oder im Pass eine überflüssige Unterschrift löschen muss, dann kann er sich an uns wenden.
    Â 
    1. Dezember 2003
Ach wie …
    Â 
    Wenn Vera schläft, sind ihre Arme ausgebreitet wie die der Jesus-Christus-Statue in Brasilien.
    Â 
    2. Dezember 2003
Mein androgynes Wesen
    Â 
    Man sagt zu mir: »Du musst jetzt für Vera nicht nur Mutter sein, sondern auch Vater.«
    Nun werde ich wohl zum Androgynen mutieren. Ein Hermaphrodit will ich nicht werden, denn bei ihm liegt der Akzent mehr auf dem Körper als auf dem Geist. Da müsste man noch zusätzliche Organe einpflanzen, das ist teuer. Ich will mich lieber kostenlos vervollkommnen.
    Â 
    3. Dezember 2003
Was für eine Braut!
    Â 
    Eine Bekannte war mit ihrem kleinen zweijährigen Sohn hier. Das Erste, was sie beim Anblick von Vera sagte: »Eine Braut! Vielleicht wird mein Sohn Veras Bräutigam!«
    Ich wollte antworten, vielleicht wird er ihr Bräutigam, vielleicht auch nur ihr Stecher. Aber ich wollte es nicht auf die Spitze treiben. In letzter Zeit bekomme ich oft zu hören: »Bösartig bist du geworden, Ira, grob und widerlich. Wie man deine Gesellschaft ertragen soll, ist ein Rätsel.«
    Doch die Psychologen und Soziologen haben für all das eine Erklärung. Die kleine Ira hat ein psychisches Trauma erlitten und braucht besondere Pflege und Verständnis, Zärtlichkeit und Feinfühligkeit, auch wenn sie alle anderen übelst beschimpft. Psychologen sind überhaupt prima Kerle, sie können jede beliebige menschliche Unflätigkeit erklären und verstehen. Eigentlich sind sie die Advokaten des Teufels.
    Â 
    4. Dezember 2003
Die Tränen eines Kindes
    Â 
    Vera hat gelernt, wie ein richtiger Mensch zu weinen. Mehr noch, sie hat angefangen zu weinen wie eine Frau. Das heißt, sie heult nicht mehr sirenenartig und überschwänglich, sondern beherrscht nun das kunstvolle Schluchzen, den vorwurfsvollen Blick, und sie legt beim Tränenvergießen Pausen ein, damit man ihr sagen kann, wie arm sie dran ist und was für eine schlechte Mutter sie hat …
    Wie eine richtige Frau versucht sie, mit ihrem Geheul das Beste für sich herauszuschinden: »Ich weine so lange, bis euch die Nerven blank liegen!« Ein schlaues Mädchen.
    Anzumerken ist hier, dass die aufrichtigsten Tränen nicht von Kindern und natürlich auch nicht von Frauen vergossen werden, sondern von Männern. Ich habe einige Male gesehen, wie Männer weinen. Sie tun dies tölpelhaft, man sieht gleich, dass sie Dilettanten sind. Aber es ist rührend.
    Â 
    6. Dezember 2003
Sumo
    Â 
    Ich habe gerade mit einem Freund telefoniert. Auf seine Frage nach Vera antwortete ich, dass sie mit ungeheurer Geschwindigkeit isst. Ein Zahn ist herausgekommen, aber wir können ihn trotzdem nicht sehen – die Wangen meiner Tochter verhindern das. Sie sieht aus wie ein

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