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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Tabunowa
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vielleicht fünfzig Rubel für ein Bier gegen meinen Kater?«
    Ich ging mit Stass und dachte, was mache ich da eigentlich? Irgendwie verlief meine Schwangerschaft falsch. Warum vergötterte und umsorgte mich meineUmgebung nicht? Wo waren Tee und ein weiches Brötchen, auf einem Tablett ans Bett gebracht? Wer küsste meinen schwangeren Bauch? Da wurde ich einfach vom Bahnhof aufgelesen wie Sonja Marmeladowa, und dann nahm man mir auch noch Geld zum Ausnüchtern ab.
    Â»Eigentlich nennt man mich den Rasenden, da kannst du jeden auf dem Kursker Bahnhof fragen.«
    Â»Ich glaube dir das schon.«
    Â»Gutgläubig bist du … Ich hatte gestern Geburtstag, und du bist mein schönstes Geschenk.«
    Â»Habt ihr gefeiert?«
    Â»Das ist gar kein Ausdruck, die ganze Bande vom Kursker war da. Die haben mir eine riesige Melone geschenkt! Wir haben sie vom Balkon geworfen. Weißt du, wie schön das ist?«
    Â»Das kann ich mir vorstellen.«
    Â»Wir hatten solchen Spaß, dass wir dann auch noch den Videorekorder runtergeworfen haben.«
    Â»Genial.«
    Â»Ja, und dann haben wir meinen Fernseher genommen und ihn auch aus dem fünften Stock geworfen. Weißt du, wie schön das ist, wenn ein Fernseher in tausend kleine Splitter zerspringt?«
    Â»Wahrscheinlich ist es so schön und klangvoll wie ein zersplitternder Badezimmerspiegel … Lebst du allein?«
    Â»Nein, bei meinen Eltern.«
    Â»Werden sie nichts dagegen haben?«
    Â»Ich sage ihnen, du seist meine Braut …«
    Als wir kamen, saß Stass’ Familie gerade bei Tisch und aß Abendbrot. Vater, Mutter und ein Mädchen.
    Â»Mama, Papa, das ist Ira.«
    Â»Das also ist Ira?«
    Â»Ja, das ist sie.«
    Â»Wir haben schon so viel von Ihnen gehört.«
    Â 
    Von Stass lief ich nach drei Tagen weg. Erstens hatte ich es satt, vor seinen Eltern die geheimnisvolle Ira zu spielen, und zweitens nervten mich die trunkenen Erzählungen von Stass über seine Knastzeit.
    Er war lieb und sentimental, wie jeder notorische Alkoholiker. Fürsorglich deckte er mich im Schlaf zu, strich mir über meinen angeschwollenen Bauch, nannte mich Spatz, Häschen und Blümchen.
    Aber Stass trank ständig. Wahrscheinlich hatte er noch nie vom Quartalssuff gehört, denn er trank 24/7.
    Geld verdiente er auf einfache Weise – er trieb Schulden für die örtlichen Gauner ein. Außerdem prügelte er sich in einem illegalen Kampfclub im Tuschino. Für Geld, natürlich.
    Â»Und wie viel bekommt man fürs Prügeln?«
    Â»Zweihundert Dollar für die ersten drei Minuten, und dann hängt es von den Einsätzen ab.«
    Â»Ich würde das um nichts in der Welt tun.«
    Â»Warum?«
    Â»Erstens kann man zum Krüppel geschlagen werden. Schau dir bloß mal deine Nase an. Wie oft musstest du schon operiert werden?«
    Â»Operiert? Zweimal …«
    Â»Siehst du, das ganze Geld geht für die Behandlung drauf, das ist irrational. Und zweitens kann man zum Idioten werden, wenn man so oft eins auf die Rübe bekommt …«
    Â»Und drittens?«
    Â»Was, drittens?«
    Â»Es heißt doch immer erstens, zweitens und drittens.«
    Â»Nicht alles in der Welt schließt sich zu Dreiergruppen zusammen.«
    Â»Nicht?«
    Â»Auf dem Grabstein stehen schließlich auch nur zwei Daten: der Geburtstag und der Todestag. Nichts Drittes.«
    Â»Und was ist mit dem Leichenschmaus?«
    Stass hörte ausschließlich Gefängnislieder und schrieb Verse wie Veras Vater. Irgendwie schien ich Poeten anzuziehen. Aber im Unterschied zu Veras Vater ging es in seinem Werk ausschließlich ums Straflager. Es ging um starken Teesud, die verhurte Ehefrau, den Wärter, den Untersuchungsführer und die treuen Freunde. Und natürlich um das alte Mütterchen.
    Dabei hatte Stass’ Mutter, eine füllige fünfzigjährige Dame, nicht mal andeutungsweise etwas von einer alten Frau.
    Â 
    Wann ist die Erinnerung eines Erwachsenen an seine Mutter besonders stark? In Extremsituationen wie Krieg, Gefangenschaft oder bei unerwarteter Krankheit.
    Das verbreitetste Knasttattoo ist wohl »Mama«, es wurde über viele Jahrzehnte kopiert. Ich glaube nicht, dass es im Moment besonders angesagt ist, weil es nicht mehr originell ist, aber seine Popularität ist unumstritten. Die Mutter wird als »letztes Heiligtum« verehrt, wenn sie gekränkt wird, wiegt das schwerer als

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