Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Tabunowa
Vom Netzwerk:
Vollidiot, wenn er der Tschetschenin Medea den Vorschlag gemacht hat, nach den hellenischen pseudokultivierten Pseudoregeln der pseudokultivierten Menschen zu leben. Ausgehend von seiner fauligen griechischen Mythologie, war er daran gewöhnt, dass alle ringsum betrügen, einander verlassen, sich gegenseitig ein Bein stellen und dabei kluge Gesichter machen. Wenn man den griechischen Hexameter weglässt, dann sieht der Dialog von Medea und Jason ungefähr so aus:
    Â»Nun, Medealein, du wirst wohl einsehen, dass ich diese junge entzückende Königstochter zur Frau nehmen muss. Das fordert die Staatsräson. Du musst mich verstehen, Liebste.«
    Â»Liebsta! Wänn du misch und Kinda farlässt, bring isch disch umm! Und dein Schlampe auch!«
    Â»Nun, Medealein, das ist doch aberwitzig und steht intelligenten Leuten nicht an! Alle Fragen sind auf friedlichem Verhandlungsweg zu klären.«
    Â»Isch sags zzum letztn Mal, du beschissen Schwain! Bring diese Nutte zu ihrm Vadda zzurjuk.
    Â»Liebste, diese Art von Reaktion ist doch kleinbürgerlich! Du wirkst vor den Augen des Volkes wie ein eifersüchtiges, dummes Huhn. Lass uns darüberstehen, ich biete dir Freundschaft und Partnerschaft an!«
    Â»Schtäck dia dein Freunschaaft in Aarsch! Und dein Parnerscha-aft gleisch mit! Du faulische Nuss!«
    Â»Man kann überhaupt nicht mit dir reden, Medealein. Meine Freunde haben recht, du solltest aus dem Königreich verbannt werden. Mit diesen miesen und vulgären Ansichten zu den zwischenmenschlichen Beziehungen hast du keinen Platz in meinem Herzen.«
    Das heißt, im Großen und Ganzen wird in
Medea
der Konflikt zwischen der hellenistisch-zivilisierten und der barbarischen Welt beschrieben. Es geht um die Unmöglichkeit, übereinzukommen. Barbaren reflektieren nicht.
    Medea war selbst eine Vatermörderin. Sie hatte ihren Vater getötet, um ihren Mann Jason zu rächen. Jason und sie steckten also unter einer Decke, daher kann man davon ausgehen, dass Jason, wie Stalin, nach und nach seine Komplizen beseitigen wollte. Und Medea gefällt es dann natürlich nicht besonders, dass Jason die andere heiratet.
    Deswegen tränkt Medea mit den Worten »Doch lindert es den Kummer, lachst du meiner nicht« die Hochzeitskluft der Braut mit Gift. Alles ist äußerst durchdacht und folgerichtig – wenn es mir schon beschissen geht, dann bekommst auch du was ab, Kleiner. Ich reiße euch alle in Stücke!!!
    Jasons Braut stirbt. Aber es sterben auch Medeas Söhne, auch die hat sie umgebracht.
    Da stellt sich doch die Frage, was für eine Frau mit einem schwierigen, herrschsüchtigen Charakter wichtigerist: das Mutterglück oder ein Abstieg auf der Karriereleiter? Die Karriere stand für Medea an erster Stelle.
    Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass Medea mit dem Mord an ihren Kindern Jason im weitesten Sinne kastriert hat. Sie vollzieht einen Akt der Entmannung ihres untreuen Gatten.
    In der Weltliteratur und auch in der realen Geschichte ist der Mord an den eigenen Kindern gar nicht so selten. Man denke nur an Iwan den Schrecklichen. Allerdings waren es Männer, das heißt, der Mord an den eigenen Kindern hatte einen anderen Sinn. Mit ihren Kindern töteten sie sich selbst, genauer, einen Teil von sich. Es war also keine Kastrierung im weitesten Sinne, sondern ein perverser Versuch der eigenen Auslöschung.
    Bei den Weibern passiert es wie immer nur wegen der Kerle. Die können einfach nichts nur für sich selbst tun.
    Am Ende fliegt Medea auf einem Drachen davon. Wo hat sie diesen Drachen vorher gehalten? Das ist bei Euripides ein Hauch mystischer Realismus am Ende des Dramas. Gehen wir mal davon aus, dass der Drachen eine Entsprechung zum Flugzeug ist.
    Die Rache ist vollzogen. Das Blut hat alles reingewaschen. Die Braut ist tot, die Kinder im Grab. Medea ist gerächt, aber: mich quält die Frage, wo die Grenze zwischen gerechter Vergeltung und dem durch nichts gerechtfertigten Bösen verläuft. Wenn die Strafe das Maß des Vergehens um ein Vielfaches übersteigt? Wenn man für ein gestohlenes Stück Käse die rechte Hand abgehackt bekommt? Und für das Überqueren einer Straße an verbotener Stelle ein Jahr Haft.
    Olga versuchte, mich in unseren seltenen nächtlichen Gesprächen zu beruhigen.
    Â»Pfeif doch auf alles. Das Wichtigste ist jetzt das Kind. Das erste Mal habe ich mich übrigens auch

Weitere Kostenlose Bücher