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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Tabunowa
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führen. Wachse du erst mal an mein Niveau heran und lerne, in Schachtelsätzen zu sprechen.«
    Aber sobald die Kinder gelernt haben, in Schachtelsätzen zu sprechen, sind wir für sie oft nicht mehr interessant. In intellektueller Hinsicht, meine ich, nicht in finanzieller …

Erinnerungen an den siebten
Schwangerschaftsmonat.
Totale Scheiße
    Â 
    In Supermärkten zu klauen ist für große Menschen viel einfacher als für Winzlinge. Das Wichtigste ist, dass der Kopf über die Alarmanlage hinter der Kasse ragt. So kann man in seiner Mütze teure Vitaminpräparate, Schokolade oder Cremes hinausschmuggeln.
    Noch nie bin ich erwischt worden.
    Ich bin 1,77 Meter groß, das ist nicht aufsehenerregend, aber ganz sicher nicht klein. Und wenn ich hochhackige Pumps anziehe oder Plateauschuhe, dann rage ich an die Einmeterneunzigmarke heran. Aber das ist eher ein Nachteil als ein Vorteil. Ich bin sicher, dass kleine Frauen es in dieser Welt viel leichter haben als ihre hochgewachsenen Schwestern.
    Beginnen wir damit, dass große Frauen viel weniger Chancen hinsichtlich eines Partners haben. Nicht jeder Mann ist bereit, eine Freundin zu haben, die größer ist als er selbst, aber das ist nicht das Wichtigste. Mich deprimiert eher eine andere Ungerechtigkeit und Geißel der Natur.
    Je größer eine Frau ist, desto mehr wird von ihrem Äußeren erwartet. Sie trägt ihr Äußeres vor sich her wie ein Reklameschild. Schönheit oder Entstellung wirken an ihr wie durch ein Vergrößerungsglas. An einem Tag sieht man hundertprozentig gut aus – und alle sind begeistert. Am nächsten Tag ist man unausgeschlafen und hatte keine Zeit, sich die Haare zu waschen – und schon sind 1,77 Meter Hässlichkeit unterwegs.
    Alles Große ist leicht verletzbar. An große Menschen, die aus der Masse hervorragen, hat man sogar höhere Erwartungen an das Verantwortungsbewusstsein. »Du bist so eine lange Bohnenstange – geh schon und verteidige die Kleine. Sie ist eine kleine Frau, also schwach, und du bist eine starke gesunde Stute.«
    Man braucht nicht einmal die Menschen in Betracht zu ziehen, man nehme nur die Architektur. Alles Riesige wird zu Beginn beschimpft und verachtet. Niemand dagegen fordert, eine Netsuke zu zerstören! Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Zum Beispiel beim Eiffelturm. Wie hat man sich im vorletzten Jahrhundert an ihm gestört, als er gerade gebaut worden war. Man wollte, dass der eiserne Lulatsch wieder abgerissen wird! Und jetzt steht er mit gespreizten Beinen als Symbol von Paris da. Er hat Glück gehabt … Wie Claudia Schiffer. Und wenn sie nun eine Hakennase und schiefe Zähne hätte?
    Â 
    Nach einem Volksglauben kostet eine Mutter jedes Kind einen Zahn. Bei mir war mit den Zähnen alles in Ordnung, nur das Zahnfleisch blutete, als hätte ich Skorbut. Daher trug ich verschiedene Zahncremes aus dem nächstgelegenen Supermarkt und hoffte, dass sie helfen würden.
    Im siebten Monat zog ich von Olga zu einer anderen Freundin. Genauer gesagt, zu ihr und ihrem Mann bzw. ihrem Freund, mit dem sie schon zwei Jahre zusammenlebte.
    Katja und Oleg lebten in einer geräumigen Zweizimmerwohnung, deswegen fiel ich ihnen nicht sonderlich zur Last. Aus meiner Sicht war ich in dieser Zeit überhaupt ein idealer Gast: ich wollte nicht unterhalten werden, aß nichts, klaute den Gastgebern keine Bücher. Ich lag nur auf meiner Schlafcouch und starrte die Decke an.
    Einmal allerdings bescherte ich meinen Gastgebern einige schwere Minuten. Am Vorabend hatten wir bei Tee zusammengesessen, und ich hatte Katja und Oleg von meiner Schwangerschaft erzählt:
    Â»Und überhaupt hat bei mir schon der siebte Monat begonnen, ich kann das Kind jetzt schon zur Welt bringen. Auch wenn es dann ein Frühchen ist.«
    Â»Huch, Ira, aber bitte nicht bei uns.«
    Â»Was ist denn weiter dabei, ihr braucht lediglich einen Krankenwagen zu rufen. Der muss dann nur noch rechtzeitig da sein, sonst werdet ihr meine Hebammen. Dann müsst ihr Wasser holen und die Nabelschnur durchschneiden …«
    Wir lachten darüber und gingen schlafen. Und in der Nacht hatte ich meine ersten Krämpfe im Bein.
    Bei Schwangeren kommt so etwas vor, wenn sich ein Nerv verklemmt. Aber das Wissen darum, dass das nichts Schlimmes ist, macht es nicht leichter. Als ich mir mit meinem Knie fast die Zähne ausschlug, begriff ich, warum Menschen in

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