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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Tabunowa
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einen fruchtbaren Boden und nichts Schmutziges oder Unnatürliches. Früher wurden dort die menschlichen Fäkalien eifrig registriert und nach Gewicht auf dem Markt verkauft. Die Japaner werden von klein auf zur Achtung gegenüber ihrem eigenen Kot erzogen.
    Von dort kommt auch die interessante Tradition der Toilettenreinigung durch schwangere Frauen. Eine alte japanische Volksweisheit besagt, dass das Kind einer Mutter, die während der Schwangerschaft häufig die Toilette gereinigt hat, bei der Geburt besonders schön ist, so wie die Erde vom reichhaltigen Dünger noch fruchtbarer wird.
    Ich denke, diese Tradition ist überaus richtig und angemessen. Mit schwangeren Frauen ist sowieso nichts anzufangen, besonders, wenn sie eine Gestose haben. Sie können also auch Toiletten putzen, dann haben sie wenigstens immer eine Kloschüssel in der Nähe …
    Ich fürchte nur, dass die japanische Tradition bei uns nicht wird Fuß fassen können. Es gibt zu viel Scheiße in unserem Land. Überall ist sie in Hülle und Fülle vorhanden. Und das ist auch gut so! Sollen uns doch Öl und Gas ausgehen – wir werden Scheiße exportieren!

Erinnerungen an den achten
Schwangerschaftsmonat.
Bald ist es so weit
    Eine schwangere Frau ist wie eine Staatsgrenze. Wie das Gelb an der Ampel. Wie ein Apfel, der in seinem Flug vom Baum über Newtons Kopf innehält. Eine schwangere Frau ist wie China mit seiner inneren Mongolei.
    Mit mir ist alles in Ordnung, nur mein Zustand ist einzigartig. Die Zeit vergeht für mich gleichzeitig schnell und langsam. Ich bin wie Italien mit seinem Vatikan. Wie der Komfortzug
Sankt Petersburg–Moskau
. Ich bin wie der Lufthauch zwischen Klinge und Kehle.
    Ist es möglich, dass ich in meinem einzigartigen Zustand genauso aussehe wie diese dummen Gänse, die neben mir im Wartezimmer für die Ultraschalluntersuchung sitzen? Es kann nicht sein, die haben doch deutlich einen an der Klatsche, man muss sich nur mal ihr dümmliches Lächeln anschauen …
    Eine Krankenschwester in der Klinik, in der ich zur Beobachtung gelegen hatte, schenkte allen Frauen beiihrer Entlassung ein Fläschchen Baldrian und sagte dazu: »Schwangerschaft ist eine Nervenkrankheit.«
    Sie hatte unrecht – Schwangerschaft ist ein schwerer Unfall, ähnlich einem Beinbruch. Deswegen ist auch die Krankschreibung für eine Schwangerschaft eine der längsten.
    Â 
    Beim Ultraschall sagte mir der Arzt, dass es ganz sicher ein Mädchen wird. Meine Mutter fragte damals am Telefon:
    Â»Wie wollt ihr sie nennen?«
    Â»Marina.«
    Â»Bloß nicht Marina, was für ein Leben soll das Kind denn haben? Marina Mnischek wurde getötet, Marina Zwetajewa hat sich aufgehängt. Marina Vlady ist zwar noch am Leben, aber ihr Mann Wyssozki liegt unter der Erde. Gib dem Mädchen lieber einen Namen aus dem Heiligenkalender!«
    Â»Hatten die Namensträger aus dem Heiligenkalender etwa ein schönes Leben? Sind sie würdevoll in ihrem Bett gestorben?«
    Die meisten von uns sind getauft, das stimmt. Aber haben Sie schon mal darüber nachgedacht, dass man bei der Taufe den Namen eines Heiligen oder einer Heiligen bekommen kann, die auf tierische Weise getötet wurden?
    Nehmen wir zum Beispiel die heilige Märtyrerin Irina. Sie lebte zusammen mit anderen Christen in einer Höhle und verbrachte ihre Zeit ständig mit Gebeten. Durch die Denunziation von Heiden wurde die heilige Irina von Kriegern des römischen Kaisers gefangen genommen und in ein Verlies gesperrt. Für ihren furchtlosen Glauben an Christus nahm die heilige Irinagrausame Folter auf sich. Die Zunge wurde ihr abgeschnitten, die Zähne ausgeschlagen, und schließlich schlug man ihr mit einem Schwert den Kopf ab.
    Und so ist es allen ergangen! Was ist dagegen schon der Mnischek und der Zwetajewa passiert … Und praktisch alle Heiligen wurden gefoltert und dann wahlweise verbrannt, gevierteilt oder ertränkt.
    In diesem Zusammenhang wäre der Name »Sozialistina« noch einer der optimistischsten. Allerdings konnte ich ihn nicht im Heiligenkalender finden.
    Im Großen und Ganzen kümmerte mich das aber zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich war bereits von Katja und Oleg zu ihrer Freundin Inna umgezogen, einer jungen Mutter, die zwei kleine Kinder hatte. Der Junge war zwei, das Mädchen fünf Jahre alt. Ich durfte einziehen, nachdem ich versprochen hatte, gelegentlich auf

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