Fehltritt Im Siebengebirge
Drahtgeflecht des Schutzzaunes auseinanderbog und sich wie ein Pfadfinder auf dem Bauch an die Abbruchkante heranschob. Einen Blick nur, einen einzigen Blick wollte er auf die tief unten liegende Wasserfläche des Blauen Sees werfen. Von früheren Wanderungen wußte er, daß nach vielleicht hundert bis zweihundert Metern Marsch in Richtung Rabenlay und Kuckstein der noch kleinere Märchensee zu sehen sein würde. Doch das war nur ein fast trockener Tümpel mit brackigem Wasser, zugewachsen von Büschen und Bäumen und trotz seines Namens ohne besonderen Reiz. Der Blaue See dagegen, mit seiner mächtigen, von abgebrochenen Basaltsäulen durchsetzten Steilwand, war so schrecklich schön und faszinierend, daß ein Junge ihn einfach sehen mußte.
Grand-Pere war ein wenig ängstlich und trat zu Mathias. »Wenn du schon einen Blick riskieren willst, laß mich wenigstens deine Füße festhalten.«
Mathias schob sich weiter vor und stieß einen Schreckensschrei aus: »Da unten liegt einer! Ja, da liegt einer halb im Wasser! Ob der wohl tot ist?«
»Zurück, Junge, komm zurück!« Grand-Pere zog Mathias heftig zu sich heran. »Was sagst du?«
»Ja, da unten liegt einer – ganz bestimmt. Vielleicht können wir noch helfen.«
»Komm zurück hinter den Zaun, setz dich auf die Bank dort und paß auf das Fernglas und die Wandertasche auf. Ich muß nachsehen, was los ist!« Damit kletterte Wessendorf wieder durch die Lücke im Drahtzaun, legte sich ohne Rücksicht auf seine Kleidung auf den Waldboden und robbte bäuchlings an die Abbruchkante heran.
»Grand-Pere, halt dich fest, bitte, ich kann dich doch nicht halten!« ängstigte sich Mathias.
»Bleib du sitzen. Ich passe schon auf.« Wessendorf fühlte sich mehr als vierzig Jahre zurückversetzt, in die Zeit, als er in den Felsen der Krim auf den Treffer und Absturz wartete. Durch das vom Regen ausgewaschene, frei in der Luft hängende Wurzelwerk erfaßte sein Auge die gegenüberliegende, westliche Seite des Wasserspiegels und mit einem weiteren Recken des Kopfes auch die senkrecht unter ihm liegende Geröllmure, mit der die Steilwand in den See überging. Und dort lag ein Mensch. Ohne Zweifel tot. Kopf und Oberkörper im Wasser.
Grand-Pere hatte seine Aufregung abgestreift. Er kroch zurück. Dann griff er zum Fernglas auf der Bank.
»Können wir dem da unten nicht helfen?« fragte Mathias mit weit aufgerissenen Augen. »Wir müssen doch etwas tun.«
»Warte!«
Wessendorf robbte, wie er es in den für immer verlorenen besten Jahren seiner Jugend gelernt hatte, noch einmal zur Steinbruchkante vor. Mit dem Mitteltrieb justierte er das 8 x 30-Glas. Der Mensch dort unten trug einen grünen Trainingsanzug und Turnschuhe. Sein Körper wirkte seltsam verdreht und schien durch den Sturz über die scharfkantigen Säulen der Basaltfelsen schrecklich zugerichtet zu sein. Helfen konnte hier niemand mehr.
Wessendorf schob sich zurück. Er sah, daß Mathias vor Aufregung zitterte.
»Der Mann muß abgestürzt sein – und zwar ungefähr von hier, wo wir stehen. Ja, man kann die Spuren sehen. Direkt auf der anderen Seite des Busches. Der hat seine Neugier mit dem Leben bezahlt.«
»Ist er denn tot?«
»Ja, mein Junge. Wer dort hinunterstürzt, dem kann niemand mehr helfen. Falte die Hände, wir beten für ihn.«
Mathias preßte die Hände zusammen, daß die Knöchel weiß hervortraten.
Grand-Pere schlug das Kreuz und sagte nur kurz: »Der Herr sei seiner Seele gnädig. Amen.« Damit hatte er Mathias ein wenig die Angst und Erschütterung genommen. »So, jetzt muß erst überlegt und dann gehandelt werden. Was ist als erstes zu tun?«
»Wir müssen die Polizei holen und dürfen hier nichts verändern«, erwiderte Mathias mit fester Stimme. Er hatte jetzt eine Aufgabe.
»Tag und Uhrzeit?«
»Sonnabend, Viertel vor elf«, antwortete Mathias nach einem Blick auf seine Armbanduhr.
»Spuren oder andere Zeugen?«
Sie sahen sich um. Grand-Pere nahm das Fernglas und musterte noch einmal den See, der einen Durchmesser von sechzig bis siebzig Meter haben konnte, sowie die nähere und weitere Umgebung. Dann gab er das Glas an Mathias weiter.
»Kein Mensch außer uns. Doch da vorn, im Efeu, ganz nahe am Rand, das sind Spuren. Da ist der wohl gegangen. Und als er runtersehen wollte, ist er abgerutscht«, sagte Mathias.
»Sehr gut beobachtet«, lobte Grand-Pere. »Wir können hier nichts mehr tun. Wir gehen zurück und dann zur Kommende. Von dort können wir die Polizei
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