Feind aus der Vergangenheit
Pranke preßte sich auf seinen Mund.
„Keinen Laut, Alter!“ zischte
die Stimme. „Oder ich breche dir die Knochen.“
Der Schreck lähmte.
Herbert spürte Angst. Er mußte
aufschließen, wurde über die Schwelle gestoßen, stolperte durch die Diele und
wäre fast gestürzt.
Dann standen sie sich
gegenüber.
Herbert erkannte ihn sofort.
„Wenn du schreist“, sagte der
Teigige, „mache ich dich alle. Bei mir geht’s um Kopf und Kragen. Verstehst du?
Ich werde gesucht von den Bullen. Weißt du, wer ich bin?“
Jetzt muß ich mich dumm
stellen, dachte Herbert. Er schüttelte den Kopf.
„Um so besser“, sagte der
Teigige. „Für dich bin ich Henry.“
Henry Spähtvolger, dachte
Herbert. Ein gesuchter Bankräuber. O ja! Ich weiß!
Aber er sagte nichts.
„Für eine Weile“, sagte
Spähtvolger, „bleibe ich hier. Ich muß mich verstecken. Draußen ist ziemlich
was los. Man hat mich erkannt und... Jedenfalls bleibe ich bis Anbruch der
Dunkelheit. Du verhältst dich ruhig. Klar? Sonst...“ Er hob drohend die Faust.
Herbert nickte. Er dachte an
Frau Becker, seine Nachbarin. Sie war erstaunlich fit trotz ihrer 78 Jahre,
hatte scharfe Augen und einen wachen Verstand. Und sie erhielt jeden Tag die
Zeitung von ihm.
Darauf hatten sie sich
geeinigt. Wäre doch dumm, die Tageszeitung zweimal zu kaufen. Wo man sie
weitergeben konnte in netter Weise. Erst wurde die Zeitung von Herbert gelesen,
dann, am späten Vormittag, kam Frau Becker herüber und holte sie sich.
Was für ein Glück! dachte
Herbert.
*
Eine unruhige, fast schlaflose
Nacht lag hinter Tim. Dennoch stand er früh auf. Er fühlte sich gehetzt. Unruhe
peitschte ihn. Aber er konnte nichts tun.
Um innerlich nicht zu
explodieren, reagierte er sich ab — körperlich: mit vielen Klimmzügen am
Türrahmen, zornigen Karate-Fauststößen auf eingebildete Gegner und knallharten
Tritten.
Zum Frühstück nur Milch. Karin,
die ebenfalls schlecht geschlafen hatte, trödelte herum im Bad.
Dann endlich hatte der
Zeitungskiosk geöffnet, und Tim rannte zur Straßenecke und erstand die örtliche
Tagespresse: fünf Zeitungen.
Im Wohnzimmer prüften beide die
Lokalteile.
Das Phantombild vom unbekannten
Bankräuber war in der Tat nicht gelungen. Die geierhaften Züge wirkten zu
grimassenhaft. Aber das Fahndungsfoto vom Komplicen, vom teigigen Henry
Spähtvolger, zeigte deutlich dessen miese Visage.
„Wer den sieht, erkennt ihn“,
sagte Karin.
„Bestimmt.“
„Bei dem Klopsgesicht hilft
auch keine Verkleidung. Ich meine, wenn er sich einen Schnurrbart anklebt oder
eine Sonnenbrille aufsetzt.“
„Er wird sich verstecken. Aber
er kann nicht ewig verschwunden bleiben. Jetzt besteht Hoffnung. Ob ich mal bei
Inspektor Havliczek anrufe? Klar! Jetzt müßte er an seinem Schreibtisch sein.“
„Nerv ihn nicht, Tim! Es ist
noch ein bißchen früh. Die meisten Leute haben noch nicht Zeitung gelesen.“
„Wieso? Viele stecken beim
Frühstück die Nase rein. Am Wochenende mache ich das auch. Sogar im Internat.
Für langes Lesen reicht die Zeit natürlich nicht. Aber die wichtigsten Seiten
reiße ich aus und lese sie später.“
Er griff zum Telefon und rief
Havliczek an.
Der Inspektor war im Büro, und
seine Stimme klang aufgeregt.
„Nein, dein Anruf kommt nicht
zu früh, Tim. Es tut sich was. Henry Spähtvolger wurde entdeckt. Eine
Passantin, die an der Bushaltestelle wartete, hat ihn nach dem Fahndungsfoto
erkannt. Wie bestellt, kam auch ein Streifenwagen vorbei im selben Moment, und
die Frau hat ihn angehalten.“
„Dann ist Spähtvolger
verhaftet?“
„Das leider nicht.“
„Sondern?“ Tim war enttäuscht.
„Er hat den Aufruhr bemerkt und
konnte fliehen. Ist in eine Seitenstraße gerannt — und weg war er. Aber wir
suchen das Viertel ab. Weit kann er nicht sein.“
„Wo, in welcher Gegend?“
„Trebbenheuer-Straße, hinter
der Erinnerungs-Kirche.“
„Danke!“ Tim legte auf.
„Karin! Trebbenheuer-Straße! Wo
ist das? Wie komme ich dorthin?“
*
Spähtvolger saß in der Küche
und fraß Herberts Eisschrank leer: die restliche Wurst, das Stück Käse, die
Ölsardinen. Herbert mußte sich dazu setzen.
Spähtvolger schmatzte. „Du
lebst allein, Mann. Kriegst du heute irgendwelchen Besuch?“
Herbert schüttelte den Kopf.
„Ich erwarte niemanden. Aber nachher kommt meine Nachbarin, die Frau Becker.“
„Was will sie?“
„Sie holt sich die Zeitung.“
„Wozu?“
„Sie liest sie nach mir.
Dadurch spart
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