Feind in Sicht
unerwarteten Aufschub. Das war alles sehr seltsam. Bolitho wandte sich von seinen diskutierenden Offizieren ab und sah zur nächsten Landzunge hinüber. Vielleicht holten die Franzosen schon von anderswo Hilfe herbei, etwa schwere Artillerie aus Tochefort? Diesen Gedanken gab er sofort wieder auf. Bis dahin waren es annähernd dreißig Meilen über Land, und ehe die Geschütze an einem Ort in Stellung gebracht worden wären, von wo aus sie die vor Anker liegende
Hyperion
hätten treffen können, hätte alles mögliche geschehen können. Der Wind mochte drehen, auch konnte der französische Admiral nicht wissen, welche Kräfte bereits unterwegs sein mochten, um dem einzelnen Schiff zu helfen, das seinen Fluchtweg blockierte. Nein, was er auch unternehmen wollte, er mußte es schnell tun.
Bolitho sagte: »Schicken Sie zusätzliche Leute in den Ausguck, Mr. Inch. Vielleicht können sie seewärts Segel ausmachen. Ob fremde oder eigene, ich will es sofort wissen.« Er hielt kurz inne.
»Und befehlen Sie unseren Leuten, leise zu sein. Was hier vorgeht, durchschaue ich nicht, aber die Situation gefällt mir nicht. Das Schiff muß jederzeit gefechtsbereit sein.«
Eine halbe Stunde verstrich, die ankernden Schiffe schwojten sanft in der Dünung, durch eine über zwei Meilen breite Wasserfläche voneinander getrennt, die im grellen Licht wie zerknittertes Silber glänzte.
»An Deck!« Die Stimme des Ausgucks ließ alle zusammenzucken. »Ein Boot legt vom französischen Flaggschiff ab.«
Bolitho beobachtete das Boot prüfend durchs Glas und sagte dann: »Ein Parlamentär, Mr. Inch. Halten Sie sich bereit, das Boot zu empfangen, wenn es längsseit kommt, aber seien Sie auf Tricks gefaßt.« Es war nur eine kleine Gig, und als sie sich schnell der
Hyperion
näherte, hörte Bolitho überraschte Ausrufe von der Bugwache und einigen Marinesoldaten, die das Boot im Visier einer mit Schrapnell geladenen Drehbasse hielten.
Inch kam nach achtern gelaufen. »Sir, in dem Boot sitzt ein britischer Offizier, und auch die Rudergasten sind unsere Leute.« Bolitho biß die Zähne zusammen, um seine Beunruhigung zu verbergen. »Gut. Seien Sie auf der Hut.«
Die Gig hakte an der Kette an, und die Matrosen an der Schanzkleidpforte traten zurück, als ein Leutnant in zerrissener, von Pulverqualm geschwärzten Uniform an Deck kletterte und ohne einen Blick nach rechts oder links zum Achterdeck ging. Er erblickte Bolitho und legte die letzten Schritte mit schleppenden Füßen zurück, als könnten seine Beine kaum noch das Gewicht seines Körpers tragen. Als er sprach, klang seine Stimme stumpf und leblos.
»Leutnant Roberts, Sir.« Er versuchte, die Schultern zu recken, als er ergänzte: »Von seiner Britannischen Majestät Fregatte
Ithuriel
.«
Bolitho antwortete ruhig: »Kommen Sie in meine Kajüte, Mr. Roberts, wenn Sie eine Nachricht für mich haben.«
Aber der Leutnant schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Sir, dazu haben wir keine Zeit. Ich wurde auf Ehrenwort beurlaubt, um mit Ihnen zu sprechen und dann unverzüglich zurückzukehren.« Er schwankte und war nahe daran, zusammenzubrechen. »Die
Ithuriel
wurde von der Fregatte gekapert, die Sie eben versenkt haben. Wir untersuchten gerade ein paar Küstenlugger, als sie uns von See her überraschte. Es war eine raffinierte Falle, denn auch die Lugger waren voll Bewaffneter. Wir wurden entmistet und innerhalb einer Stunde geentert. Unser Kommandant fiel.« Er hob die Schultern.
»Ich gab Befehl, die Flagge zu streichen. Mir schien, ich hatte keine andere Wahl.« Seine Augen verrieten plötzlich Verzweiflung und Zorn. »Wenn ich geahnt hätte, was dann kommen sollte, hätte ich meine Leute lieber im Kampf sterben lassen.« Er zitterte heftig, Tränen rannen ihm über das schmutzbedeckte Gesicht, als er mit fast versagender Stimme hinzufügte: »Der französische Admiral verlangt von mir, daß ich Ihnen mitteile, falls Sie nicht unverzüglich Anker lichten und verschwinden…« Er brach ab, wurde sich plötzlich der beobachtenden Gesichter bewußt. »Er läßt jeden einzelnen von der Besatzung der
Ithuriel
auf der Stelle aufhängen.«
Inch stöhnte: »Mein Gott, das ist doch nicht möglich!«
Der Leutnant starrte ihn mit vor Erschöpfung und Schock trüben Augen an. »Aber es stimmt, Sir. Der Admiral heißt Lequiller, und er tut, was er sagt. Glauben Sie mir.«
Ein Kanonenschuß dröhnte dumpf über die Flußmündung; als sofort darauf zwei zuckende, verzweifelt strampelnde Gestalten
Weitere Kostenlose Bücher