Feind in Sicht
unpersönlich und darum um so bedrohlicher.
Schließlich antwortete Bolitho: »Lassen Sie die Leute jubeln.« Er hob die Stimme, um den Lärm zu übertönen: »Hart Steuerbord!«
Langsam drehte die
Hyperion
in den Wind.
»Marssegel aufgeien!«
Ihr Bugspriet war wieder auf das Land gerichtet. Bolitho verkrampfte die Hände auf dem Rücken, um seine aufsteigende Verzweiflung zu beherrschen.
»Fallen Anker!«
Der letzte Rest Nebel verzog sich, als ob endlich ein Vorhang von der See gehoben worden wäre, und ein Strahl wäßrigen Sonnenlichts beleuchtete den Fockmast des vorderen Schiffs wie ein goldenes Kruzifix.
Der Jubel an Bord der
Hyperion
erstarb, und über das ganze Schiff legte sich eine Stille, die man beinahe greifen konnte.
Bolitho hob das Glas und studierte die näherkommenden Schiffe. Das erste war ein Zweidecker, das zweite auch. Dann kam das dritte um eine vorspringende Landzunge herum, sein Rumpf glänzte, als es in der Strömung leicht krängte: ein Dreidecker mit der Kommandoflagge eines Vizeadmirals am Fockmast. Bolitho versuchte, sich nicht nervös die Lippen zu lecken. Es war hoffnungslos. Nein, noch schlimmer.
Er fragte sich, was der Kommandant des führenden Schiffes in diesem Augenblick denken mußte. Jedenfalls hatte er den Befehl zum Auslaufen bekommen. Die auf der Lauer liegende englische Fregatte war überwältigt worden, ehe sie Alarm schlagen konnte, und nach Monaten des Wartens wurden die Franzosen wieder aktiv. Dort winkte die offene See und lockte mit dem hellen, wenn auch verschwommenen Horizont.
Doch mitten im Fahrwasser lag ein einzelnes Schiff vor Anker, bereit, bis zum Ende zu kämpfen.
Allday überquerte das Deck und hielt Bolitho seinen Säbel entgegen. Als er ihn Bolitho umgürtete, sagte er ruhig: »Dafür ist heute ein schöner Tag, Captain.« Als sich ihre Blicke begegneten, fügte er hinzu: »Das erste wirklich gute Wetter, seit wir England verlassen haben.«
Im ganzen waren es vier Schiffe, und während die Minuten verstrichen, schien es den beobachtenden britischen Seeleuten so, als ob sich das ganze Fahrwasser mit Segeln und Masten füllte.
Bolitho zwang sich, zum Niedergang zur Hütte zurückzugehen, wo Roth, der Vierte Offizier der
Hyperion,
wie hypnotisiert neben seinen Neunpfündern stand. Roth hatte sich als fähiger Offizier erwiesen, der schnell die Anforderungen seines ersten Kommandos auf einem Linienschiff begriff. Doch als er jetzt auf die näherkommenden Schiffe starrte, hatte seine Haut die Farbe von Pergament angenommen.
Bolitho sagte beherrscht: »Wenn ich falle, Mr. Roth, werden Sie den Ersten Offizier nach besten Kräften auf dem Achterdeck unterstützen, verstehen Sie?« Roth blickte ihm voll ins Gesicht. »Bleiben Sie bei Ihren Geschützen, und ermutigen Sie die Leute in jeder Weise, selbst wenn…«
Er drehte sich schnell um, als Inch heiser ausrief: »Das führende Schiff hat Anker geworfen, Sir! Gott helfe mir, daß zweite auch.« Bolitho rannte an ihm vorbei und kletterte in die Besanwanten hinauf. Unglaublich, aber es stimmte. Er beobachtete, wie vor dem Bug des stattlichen Dreideckers eine kleine Wolke Gischt weiß aufsprühte, und wußte, daß auch dieser das gleiche getan hatte. Das letzte Schiff wurde von den anderen fast verdeckt, aber er konnte die lebhaften Bewegungen auf seinen Rahen ausmachen, bis erst ein Segel und dann ein weiteres verschwand. Die Franzosen hatten sich den letzten und einzigen Platz ausgesucht, wo sie noch sicher ankern konnten: die breiteste Stelle des Fahrwassers vor den trügerischen Sandbänken, die das letzte Stück vor dem Zugang in die offene See bewachten. Bolitho sprang wieder an Deck zurück und hörte nur halb die aufgeregten Stimmen und ungläubigen Ausrufe, als die Nachricht durch das ganze Schiff lief, daß die Franzosen Anker geworfen hatten, statt den Kampf anzunehmen.
»Was halten Sie davon, Sir?« Inch sah Bolitho an, als erwarte er eine sofortige Erklärung. »Die können sich doch unmöglich vor einem einzelnen Schiff fürchten?«
»Das meine ich auch, Mr. Inch.«
Bolitho sah zu den Männern auf den Rahen der
Hyperion
hinauf, die erst vor wenigen Minuten die Segel festgemacht und sich darauf vorbereitet hatten, dem Tod in einem letzten hoffnungslosen Kampf ins Auge zu sehen. Jetzt jubelten sie, und manche schüttelten die Faust gegen die ankernden französischen Schiffe, schrieen Schimpfworte und Verhöhnungen; aus ihren Stimmen sprach Verachtung, aber auch Erleichterung über diesen
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