Feind
sie gerade erst glühend aus der Esse gezogen worden. Der Bann, den die
Litanei des Tages um seine Gefühle errichtet hatte, war verschwunden. Mit
ungeahnter Macht brach sich alles Bahn, was er zurückgehalten hatte. Die
Erinnerung an Limoras’ unmenschliches Ritual widerte ihn an. Die Liebe zu Ajina
wollte ihm schier die Brust zerreißen, der Anblick ihrer reglosen Gestalt
durchdrang ihn wie glutflüssiges Eisen. Furcht empfand er nicht, aber Wut,
unbändigen Zorn auf die Schattenherren und vor allem auf Lisanne, die für so
viel Leid verantwortlich war. Und auf Modranel, der seine Tochter zu sich
gerufen und so in Gefahr gebracht hatte. Gerade noch konnte Helion sich soweit
beherrschen, dass er nicht mit dem Schwert zuschlug, sondern den Magier mit der
freien Hand fortstieß. »Ist dies das zweite Kind, das Ihr auf dem Gewissen
habt?«
Er kniete sich neben Ajina, hob ihren schlaffen Körper auf seine
Knie, bettete ihren Kopf auf seinen gepanzerten Oberschenkel. »Ajina! Wach auf!
Sprich mit mir!«
Aber das Einzige, was sich an ihr bewegten, waren die blutigen
Tränen, die aus ihren Augen rannen und eine violette Spur über die weichen
Wangen zogen.
»Sie ist tot«, stellte Modranel tonlos fest.
Heftig atmend starrte Helion zu ihm hinauf.
»Ajina ist tot«, wiederholte Modranel.
Ruhig pulsten die mondsilbernen Applikationen auf Helions Rüstung,
wie Lava, die allmählich abkühlte. Erst jetzt drang der Sinn der Worte zu ihm
durch. »Nein!«, schrie er. »Nein, Ihr Götter! Der Preis ist zu hoch! So viel
durften die Schatten nicht von uns fordern!« Hasserfüllt starrte er zu Lisanne
hinüber.
»Passt auf, was Ihr tut, Paladin!«, rief Modranel. »Nicht!
Beherrscht Euch!«
Helion bemerkte zuerst das intensivere Leuchten der Silberelemente
auf seiner Rüstung. Sie strahlten von innen heraus, als seien sie glühende
Kohlen, in die ein Windstoß fuhr. Dann spürte er das Kribbeln in seiner Brust.
Es fühlte sich ähnlich an wie bei einem Finger, den man abdrückte, sodass das
Blut in seinem Fluss behindert wurde.
Silbrig glänzend schwebten Funken aus seiner Brust, unbehindert vom
Eisen seiner Panzerung. Bei Gonnar hatte er im Augenblick seines Todes
Ähnliches gesehen, wenn auch nur verschwommen, so wie die Finsternis, die
Modranel und Lisanne aufeinander geschleudert hatten. Er war kein Magier,
dessen Sinne für solcherlei geschult waren. Dennoch verstand er, dass es seine
Lebenskraft war, die sich von ihm löste und zu Lisanne gezogen wurde.
Er wusste, dass er seine Gefühle hätte zurückhalten müssen, aber
nachdem die Litanei ihre Wirkung verloren hatte, fand er nicht die Disziplin
dazu. Wie er sie hasste, diese Schattenherzogin, die ihm die Liebste genommen
hatte! Aus tiefstem Herzen verabscheute er sie! Zornig packte er sein Schwert,
legte Ajinas Kopf sanft auf den Boden und drückte sich danach umso heftiger in
die Höhe. »Ich ramme ihr meine Mondsilberklinge durch den Hals! Ich …«
Das Reißen in seiner Brust wurde heftiger. Ein plötzlicher Ruck, der
einen Schwall Essenz materialisieren ließ. Helion wurde schwarz vor Augen.
Als seine Sicht zurückkehrte, sah er zwei Gestalten hinter Lisanne
auftauchen. Eine ging so krumm und hatte so lange Arme, dass es sich nur um
einen Ghoul handeln konnte. Die andere mochte eine junge Frau sein.
»Lióla?«, rief Modranel. Dann, lauter: »Lióla! Meine Tochter!«
»Du hättest nicht kommen sollen, Vater!«, kreischte sie. Sie stützte
ihre Meisterin, half ihr auf.
Dann ist Lisanne noch immer nicht tot, erkannte Helion. Endet es denn niemals? Soll die Finsternis
für alle Ewigkeit auf den Menschen lasten?
Noch einmal rissen die Schatten an seiner Lebenskraft. Er verlor das
Bewusstsein.
Lióla versuchte, die Tränen wegzublinzeln. Der Steinstaub war
der geringere Grund für das Brennen in ihren Augen. Niemals war sie so
aufgewühlt gewesen. Das Undenkbare geschah, Lisanne lag im Sterben. Das
Gewicht, mit dem die ansonsten beinahe schwebende Schattenherzogin auf ihr
lastete, war so schwer, dass Lióla sie wieder ablegen musste. Ein noch
deutlicherer Hinweis war das Verlöschen ihres Charismas. Andererseits waren in
dem blauen Leuchten keine Anzeichen des Verfalls zu erkennen, der Körper war
ätherisch schön, wie stets. Noch. Liólas Herz raste
bei der Vorstellung, wie die Jahrhunderte ihren Tribut fordern würden, wie
Lisanne unter ihren Händen verfaulen würde, wie die Knochen zerbröselten, bis
die Schönste der Osadroi als Staub zwischen die
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