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Feind

Feind

Titel: Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Corvus
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konnten weltliche Unbilden nicht erreichen. Ihre
Haut war so hell, dass sie das widernatürliche Licht unverfälscht zurückwarf,
sodass sie in der Farbe eines fahlen Winterhimmels schimmerte. Den Kopf hatte
sie leicht zurückgelegt, die Arme ausgebreitet.
    Jetzt konnte sich selbst Ajina nicht widersetzen. Sie kniete sich so
heftig auf die Trümmer, dass die scharfe Kante eines Bruchsteins ihre Knie
aufriss. Gonnar traf es schlimmer. Er hatte mit dem letzten Hass seines Lebens
gegen Lisanne gefochten. Jetzt kam ihr dunkler Ruf über diese Brücke und riss
die Essenz aus seinem Herzen. Silberglitzernd strömte die Lebenskraft aus
seiner Brust, begleitet von einem aus höchster Verzweiflung geborenen Schrei.
Wie ein Wasserfall dem Grund zustrebte, rauschte der Strom zu Lisanne. So
heftig forderte sie sein Leben ein, dass er keine drei Herzschläge aushielt.
Dann versiegte es. Gonnars Körper sah aus wie eine Moorleiche, das entstellte
Gesicht in einem Schmerz verzogen, für den Menschen keine Worte hatten.
    Helion zögerte. Lisanne waren drei Gardisten geblieben, die Schild
an Schild vor ihr hockten. Als die Schattenherzogin die Essenz vollständig
eingeatmet hatte, öffnete sie triumphierend die Augen.
    Das war der Moment, auf den Vater gewartet hatte. Er schlug ihren
Blick in seinen Bann. Dadurch waren die beiden so fest verbunden wie Glieder
einer Ankerkette. »Ich sehe Euch!«, rief Vater. »Ich sehe Eure schwarze Seele!«
    Was dann geschah, konnte Ajina nur erahnen. Ihre Sinne reichten
nicht aus, um zu erfassen, auf welche Weise ihr Vater und Lisanne miteinander
rangen. Es fühlte sich an wie ein Sturm, aber da war kein Wind und kein
Geräusch, das Ohren hätten wahrnehmen können. Das Tosen kam aus der Welt der
Geister, und die Wirbel rissen an Verstand und Seele, nicht am Körper. Dass die
Tentakel aus purer Finsternis, die hinter Lisanne auftauchten und Vater
entgegenpeitschten, im eigentlichen Sinne wirklich waren, bezweifelte Ajina.
Nichtsdestoweniger waren sie tödlich. An Helions feuerrot strahlendem
Silberschild fanden sie Widerstand, sodass sie ihn fortschleuderten wie eine
Puppe. Bei einem der Gardisten jedoch wischten sie durch den Kopf. Er fiel um
wie eine Holzfigur, die der unachtsame Fuß eines Kindes umstieß. Die Essenz, die
seinen Körper verließ, glich Wasser, das aus einer Amphore spritze, die auf dem
Pflaster zersprang.
    Vater zeigte keine Furcht. Er hielt weiterhin die Laterne und ging
langsam vorwärts, aber was sein Körper tat, war kaum von Bedeutung. Sein Geist
griff in Sphären, zu denen die Götter keinem Sterblichen jemals Zutritt gewährt
hatten. Schwarze Wirbel zeigten sich um ihn herum. Einige von ihnen glaubte
Ajina hinter den massiven Wänden des Gangs zu sehen, als seien die Quader aus
bestem Glas gefertigt. Manche hatten drei Arme, andere fünf oder sieben. Immer
schneller drehten sie sich, bis ihre Formen gänzlich verwischten. Dann
schleuderte Vater sie gegen Lisanne. Sie flogen pfeilschnell, eines der
Geschosse schlug durch die Brust eines Gardisten, die dadurch wie eine Melone
zerplatzte. Auch seine Lebenskraft stärkte Lisanne, die aber sichtlich unter
Vaters Angriff wankte. Schon bildeten sich die nächsten Wirbel. »Na!«, brüllte
er. »Erinnert Ihr Euch, was Sterblichkeit bedeutet? Nach all den Jahrhunderten,
die Ihr raubtet?«
    Lisanne sandte eine Front aus Finsternis aus, wie eine Welle bei
einer Springflut. Niemand konnte ihr ausweichen. Mit eisiger Kälte brandete sie
durch Ajina hindurch. Es war ein Frost der Gefühle, der sie erstarren ließ.
Einsamkeit griff nach ihrem Herzen, lähmende Furcht, Verlorenheit in einer
Finsternis, die kein Erbarmen kannte, noch nicht einmal Interesse an ihrem
Schicksal. Sie war vollkommen gleichgültig, unbedeutend. Eine Missgeburt, ein
überflüssiger Fehler, ein Nichts gemessen an der unendlichen Schwärze zwischen
den Sternen des Nachthimmels, die ihrem Erlöschen entgegentrieben. Die
Mondmutter hatte sie nicht nur verlassen, sie war tot, gestorben wie alle
Götter der Menschen, ihre Kraft erloschen. Wie eine Wanderin, die auf einem
Gletscher ausgerutscht war und auf dem steil abfallenden Eis nach Halt suchte,
kämpfte Ajina um ihren Lebenswillen. Warum nicht die Scham ihrer Existenz
aufgeben? Warum nicht in den Frieden des Vergessens eingehen? Sich dem Nichts
ergeben, in dem all ihre Unvollkommenheiten bedeutungslos waren?
    Vaters Wirbel zerrissen die Finsternis, zerfetzten sie zu
Nebelschlieren. »Mehr vermögt Ihr nicht?«,

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