Feind
Über das Meer der
Erinnerung waren Schiffe aus Eskad und von den Inseln der Gischtlande gekommen,
über die Landstraßen Truppen aus Ublid und sogar eine Horde aus Bron stammender
Barbaren, die sich im Süden herumgetrieben und dort davon Wind bekommen hatten,
dass ein Kriegszug ausgerüstet wurde. Die Hünen waren seit fünf Tagen in der
Stadt und hatten in dieser Zeit doppelt so viele Wirtshäuser zertrümmert. Viel
länger hätte der Rat sie nicht geduldet.
Helion stand auf der strahlend weißen Mauer der Hafenbefestigung und
sah nach Südosten auf das Meer hinaus. Von dort wehte eine steife Brise heran,
die aber die Nebelbank nicht bewegte, die in zehn Meilen Entfernung auf dem
Wasser lag. Natürlich nicht. Sie war unveränderlich, auch jahrhundertealte
Karten verzeichneten den Seelennebel schon an dieser Position.
»Hört Ihr das Klagen der Verschmähten?«, fragte eine Stimme neben
ihm.
Helion hatte den Krieger kommen sehen. Sein gemächlicher Gang und
der ilyjische Panzer hatten ihn überzeugt, dass seine Absichten nicht feindlich
waren, also hatte er ihn ignoriert, aber die Stimme kam ihm bekannt vor. Als er
ihn ansah, fand er sich bestätigt.
»Nur den Wind, der die Wellen gegen die Felsen treibt und in den
Bäumen rauscht.«
Narron stützte sich schwer auf den Zinnen ab. »Wirklich? Vielleicht
muss man das fühlen, was auch sie fühlen, um sie hören zu können.«
»Macht Ihr mir zum Vorwurf, dass ich in der Roten Nacht den Sieg
über Euch errang?«
»Ich versuche, es nicht zu tun. Auch wenn ich glaube, dass ich der
Würdigere von uns gewesen wäre. Aber wer bin ich, das beurteilen zu wollen?« Er
lachte freudlos, schüttelte dann heftig den Kopf, als wolle er die Gedanken
herausschleudern, die ihn plagten. »Das Los hat uns zusammengeführt, Ihr habt
gut gekämpft, Helion, Schüler Treatons, und ich war überheblich und
leichtsinnig.«
»Und doch fühlt Ihr Euch verschmäht?«
»Das Herz braucht eine Weile, um dem Verstand zu folgen, und selten
tut es das willig.« Er lehnte sich so weit vor, dass Helion fürchtete, er würde
den Halt verlieren. Aber er machte nicht den Eindruck, als wolle er sich in die
Tiefe stürzen. Er sah in die Ferne, zum Seelennebel, der hellgrau, fast weiß,
auf den blauen Wellen lag. Nur wenige Schwaden lösten sich, trieben ein paar
Schritt hoch oder senkten sich zum Wasser ab, um sich dann wieder mit der
wolkigen Masse zu vereinen. Diese Vorstöße glichen eher den trägen Bewegungen
eines Bären im Winterschlaf als der Art, wie sich Nebelschwaden üblicherweise
verhielten. »Auch sie wurden für unwürdig befunden.«
»Ihr sprecht von den zurückgewiesenen Fayé.«
»Von wem sonst? Von denen, die dem Ruf der Götter folgten, als diese
ihnen befahlen, die Welt den Menschen zu überlassen, die aber dann, schon auf
ihren Schiffen, doch nicht für würdig befunden wurden, an die lichten Gestade
zu segeln und die nun auf ewig in diesem Nebel gefangen sind.«
»Das ist nur eine Legende.«
»Eine Sage, der viele Glauben schenken. Warum wohl ist es eine
Strafe, auf der Goldenen Flotte Dienst zu tun? Gemessen an den Mühen der Fischer
und den Gefahren der Krieger sollte ein Matrose es doch als leichte Pflicht
erachten, in aller Ruhe seinen Kurs abfahren zu dürfen.«
»Die Heuer soll nicht allzu hoch sein.«
»Ihr wisst, dass Gold nicht der Grund ist. Niemand, dessen Verstand
noch in einem Stück ist, will am Seelennebel patrouillieren.«
»Ich komme nicht von der Küste. Die hiesigen Sitten sind mir fremd.«
»Tatsächlich? Dann lasst Euch sagen, dass es keiner Mutter in dieser
Stadt verziehen würde, ließe sie eines ihrer Kinder bei einem solchen Wind
allein auf die Straße. Ihr werdet es wohl wieder eine Legende schimpfen, und
ich gebe zu, ich traf noch nie einen Zeugen, der mit eigenen Augen sah, wie die
Geister auf dem Sturm ritten oder gar einen Sorglosen mit sich rissen.« Narron
brachte sein Gesicht nah an Helions. »Aber das mag daran liegen, dass jeder an
der Küste gelernt hat, vorsichtig zu sein.«
»Wenn Ihr versucht, mir Angst einzujagen, wird Euer Vorhaben
scheitern.«
»Ich weiß nicht, was sie zu tun vermögen«, räumte Narron ein. »Aber
ich war mehr als einmal dort draußen, auf See. Ich habe oft genug gewöhnlichen
Nebel gesehen, um zu wissen, dass auch er Formen bilden kann, die Einfältige
für von Qual entstellte Gesichter halten mögen. Aber diese Laute dort draußen …« Er sah Helion in die Augen. In seinen eigenen blitzte ein
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