Feind
und Gestalten vermuten, wo
keine waren. Zudem warfen die Wände den Schall in verwirrender Weise zurück.
Was in einem Teil der Kathedrale gesprochen wurde, war in einem anderen, weit
entfernten, als unverständliches Wispern zu vernehmen, als streiften Geister
durch das Gemäuer. Eine Annahme, die Lióla, trotz ihres langen Aufenthaltes
hier und obwohl sie um die Schliche der Baumeister wusste, nicht gänzlich
verwerfen wollte. In der Kathedrale waren viele gestorben, längst nicht alle in
Frieden. Und was geschah mit den Seelen jener, die zu einem Leben als Ghoul
verurteilt wurden? In ihren veränderten Körpern hatten sie kaum noch eine
Wohnstatt. Jedenfalls keine, die irgendeinem der schwachen Götter genehm
gewesen wäre, und für die Schattenherren, die einzigen Götter, die wirklich
zählten, hatten Seelen keinen Wert. Lióla spürte sich lächeln.
Sie stiegen eine breite Treppe hinab in das Zentrum des Sterns.
Auch hier war es nicht vollständig dunkel, vereinzelt glommen noch
Kohlebecken. Nur solange es Licht gab, war die Finsternis wahrnehmbar. Aber man
musste achtgeben, wohin man seinen Fuß setzte. Es gab Schwellen, die einen
übereifrigen Wanderer hätten straucheln lassen, und so viele Biegungen, dass
man leicht den Weg verlieren konnte. Es kam immer wieder vor, dass verzweifelte
Schreie zu einem Neuling führten, der nicht mehr allein zurückfand.
Lióla sah das Zittern der Priesterin, aber seine Ursache musste
nicht in der Furcht liegen. Selbst hier im Süden war Ondrien kälter als ihre
Heimat.
Sie erreichten den runden Raum, der exakt im Mittelpunkt der
Kathedrale lag. Der Weg hatte ihren Augen Zeit gegeben, sich an die Schatten zu
gewöhnen. So hatten sie keine Mühe, ELIEN VITANS Gesicht zu erkennen, wie es ihnen entgegenblickte, in einen vier Schritt hohen
Block aus Obsidian geschnitten. Lióla kniete nieder und berührte den kühlen
Stein des Bodens mit ihrer Stirn. Die Behandlung, die Pnemaja vorhin erfahren
hatte, zeigte Wirkung, denn sie nahm ebenfalls die demutsvolle Haltung ein.
Als sich die beiden Frauen aufrichteten, flüsterte Pnemaja Lióla
etwas zu. »Was tut Ihr, wenn Elien Vitan ins Eis geht, um sich zur Ruhe zu
betten, und ein anderer geweckt wird, um auf den Thron des Schattenkönigs zu
steigen?«
Als Antwort führte Lióla sie tiefer in den Raum, um ELIENS Gesicht herum. Dort blickten ihnen die strengen
Augen ZAREFIMS entgegen, der drei Jahrhunderte geherrscht
hatte, und die kühlen Züge ENTRAJAS , dem die zwei
Jahrhunderte davor gehört hatten. Noch weiter in der Dunkelheit wusste Lióla
die Bildnisse von fünf weiteren SCHATTENKÖNIGEN .
Es war unwahrscheinlich, dass SIE wirklich so
aussahen, wie die Steinmetze SIE gestaltet
hatten. Gadior hatte SIE niemals zu Gesicht
bekommen, dafür war er zu jung. Nur ELIEN VITANS Augen hatten auf ihm geruht.
»Wir werden SEIN Abbild nach hinten
bewegen und ein neues an seiner Stelle errichten.«
»Aber wie wollt Ihr einen Stein dieser Größe durch die engen Gänge
schaffen?«
»Das wird kaum möglich sein. Wir werden wohl die Kathedrale
abtragen, bis dieser Raum frei liegt, und sie danach neu errichten.«
Pnemaja starrte sie an.
»In Ondrien scheut man keine Mühen, um den Schattenherren zu
Diensten sein zu dürfen.«
»Aber Hunderte von Steinmetzen müssen ein Jahrzehnt an dieser
Kathedrale gebaut haben!«
Lióla zuckte mit den Schultern. Es waren Tausende gewesen. Kaum
einer hatte die Peitschen überlebt, die sie angetrieben hatten. »So lassen jene
bauen, die wahrhaft Macht haben.«
Lióla führte sie zurück. Sie wählte eine Treppe, die sie in einen
anderen Zacken des Sterns führte. Sie hörten die Schreie, lange bevor sie oben
ankamen.
Pnemaja sog scharf die Luft ein, als sie sah, dass an eisernen
Ringen entlang der Wände Männer gefesselt waren. Einige hatte man entkleidet,
bei anderen hatte man sich nicht die Mühe gemacht und diese Arbeit den Geißeln
überlassen, die von niederen Dienern geschwungen wurden. Undenkbar, dass sich
ein Gardist dazu bequemt hätte. Diese Arbeit galt als anspruchslos, man musste
nur darauf achten, dass die Gefangenen nicht zu schnell starben, damit die
zwischen ihnen in Wandnischen gestellten Kristalle genügend Lebenskraft
aufnehmen konnten. Aus diesem Grund schlugen die Knechte auch nur wenige Male
zu, bevor sie die Reihe abschritten und ihr nächstes Opfer wählten. Das geschah
willkürlich. Die Unvorhersehbarkeit steigerte die Angst, und je stärker die
Angst, desto mehr Essenz
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