Feind
Augen. Sie mussten lange gestarrt haben, ohne zu blinzeln, denn sie
schmerzten.
Als der Blickkontakt riss, endete auch der Bann. Ajina vernahm
wieder das Wimmern des Mädchens. Und sie hörte Schritte hinter sich.
Sie wandte sich um, bevor sie die Augen wieder öffnete. Tatsächlich!
Da war Fackelschein! »Hierher!«, rief sie. »Hilfe!«
Das Mädchen schrie.
Vorsichtig darauf bedacht, den Blick auf dem Boden zu lassen, drehte
sich Ajina wieder zu dem Seelenspiegel um. Da der Fackelschein die Umgebung
beleuchtete, konnte sie nun seine wahre Gestalt erkennen. Es war ein
Frauenkörper, geformt aus Finsternis. An einigen Stellen schimmerte er, als
wolle er das Licht zurückweisen. Die Beine waren wohlgeformt wie bei einer
Tänzerin. Sie endeten in den Tatzen eines Raubtiers. Lange Krallen kratzten
über den steinernen Boden, die Quaste eines Schwanzes hüpfte zwischen ihnen.
Ajina wagte nicht, den Blick zu heben, um nicht erneut in den Bann zu geraten.
Aber sie sah das Mädchen. Gelaja kauerte am Boden, starrte mit weit
aufgerissenen Augen zu dem Seelenspiegel hinauf. Blutige Tränen liefen über
ihre Wangen. Wenn man sie nicht sofort erlöste, würde sie sterben.
Ajina ließ ihr nutzloses Schwert fallen. Sie sah nur noch das Kind.
So schnell sie konnte, machte sie einige Schritte um den Seelenspiegel herum
und griff den kleinen Körper.
Ein übersinnliches, gespenstisches Heulen hallte durch den Stollen.
Sie sah eine finstere Klaue herankommen und presste Gelaja schützend an sich.
Das Glied der Unkreatur schlug durch sie hindurch, ohne eine Wunde zu reißen,
ohne Widerstand zu finden. Aber Ajina spürte eine schneidende Kälte, wo sie
durchdrungen wurde.
Sie wandte sich dem Fackelschein zu und lief.
»Nimm das Licht!«
Das war Helions Stimme! Ja, das musste er sein. Zwar war sein
Gesicht hinter dem zugeklappten Visier verborgen, aber der Baum auf seinem
Schild bestätigte die Vermutung. Seine Farbe war nicht silbern wie sonst,
sondern tiefrot. Sie löste eine Hand von Gelaja und griff die Fackel.
Seine Waffe zischte aus der Scheide. Auch die Schwertklinge glänzte
dunkel. Als Helion auf den Seelenspiegel zuschritt, wich alle Furcht von Ajina.
Sie vertraute ihm, ganz gleich wie mächtig der Gegner sein mochte.
Tatsächlich drang seine Waffe nicht durch den finsteren Körper,
sondern traf auf Widerstand. Der Seelenspiegel wurde so wuchtig zur Seite
geschleudert, dass er gegen die Tunnelwand prallte und davon abglitt.
Merkwürdigerweise schien das Gestein ihm mehr Widerstand zu bieten als Ajinas
Schwert oder ihr Körper.
Helion verlor keine Zeit. Er setzte dem Feind nach, schützte sich
mit dem Schild. Ajina trat näher heran, um ihm Licht zu verschaffen.
Es war ein merkwürdiger Anblick, wie die Klaue durch das Eisen
drang, aber von den Einlagen aus Mondsilber aufgehalten wurde. Wo die Kunst der
Schmiede versagte, wirkte der Schutz der Mondmutter, deren Gnade sich mit dem
Blut des Trägers vereinte.
Helions Kampfschrei hallte aus seinem Helm, als er das Schwert tief
in den Leib der Unkreatur bohrte.
Ein unmenschliches Kreischen antwortete ihm. Ajina fragte sich, wo
es herkam, schließlich war da kein Mund. Anstelle des Gesichts gab es nur das
Wallen wie von Rauch. Die ziellos schlagenden Flügel sahen ledrig aus wie die
von Fledermäusen. Sie hatten eine Spannweite von fünf Schritt.
Helion benutzte den Schild, um den Seelenspiegel an die Wand zu
drücken, und holte mit dem Schwert aus.
Aber der Schwanz fand eine Stelle, die nicht von Silber gedeckt war.
Er schlängelte sich zwischen den Stiefeln hindurch und peitschte durch das
Eisen an der Panzerung einer Wade.
Helion zuckte zurück.
Der Seelenspiegel kam frei. Ajina sah nicht, ob seine prasselnden
Klauenschläge tief eindrangen. Wo sie auf Mondsilber trafen, übertrugen sie
ihre Kraft und warfen Helion zur Seite. Wo es nur Eisen war, drang ihre Kälte durch.
Das hatte Ajina selbst gespürt. Auch die Flügel schlugen jetzt heftig.
Helion kämpfte um jeden Fußbreit Boden. Immer wieder zuckte sein
Schwert vor, und wenn er damit keinen Treffer anbringen konnte, schlug er mit
dem Schild zu. Das Heulen des Monstrums schmerzte in den Ohren. Der
Seelenspiegel schien die Wunden zu spüren, die das gesegnete Metall ihm schlug.
Vielleicht war es das erste Mal in seiner unheiligen Existenz, dass er begriff,
was Schmerzen wirklich waren.
Er wandte sich zur Flucht. Eisig wischte sein Flügel durch Ajinas
Gesicht, dann war er an ihr vorbei. Nur kurz noch
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