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Feind

Feind

Titel: Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Corvus
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die nächtlichen Exerzitien gemacht.
    Lióla sah die roten Flammen der mannshohen Fackeln, die vor den
Stufen des Tempels in den Boden gerammt waren. Zwischen ihnen hindurch trat sie
in den runden Innenraum. Dieses Heiligtum war kein Vergleich zu der mächtigen
Kathedrale von Karat-Dor. Der Tempel ließ sich mit zwanzig Schritten
durchmessen, die Wände hoben das leicht gewölbte Dach gerade einmal vier
Schritt über den Steinsockel des Gebäudes. Dementsprechend war das Standbild
von wenig imposanter Höhe. Das edelste Stück im Tempel war der Steinblock, auf
dem es befestigt war. Der Quader war sorgfältig geschnitten. Die Statue eines
muskulösen Mannes mit einem Stierkopf, die darauf ihren Platz hatte, war
dagegen wenig ehrfurchtgebietend. Sie war lediglich menschengroß. Nur der Torso
war geschmiedet, die Beine hatte man unbeholfen aus Stein geschlagen. Arme und
Kopf waren gar geschnitzt, wobei die Schnauze kleiner war, als man es für einen
Stier erwartet hätte. Wahrscheinlich hatte man keinen Holzblock passender Größe
gefunden. Immerhin waren die bronzenen Hörner sauber poliert.
    Um dieses zentrale Standbild herum bot der Tempel die übliche
Einrichtung, ein paar Bänke für stille Gebete, aber auch Gewichte verschiedener
Größen, an denen sich die Gläubigen üben konnten, um der Kraft ihres Gottes
nachzueifern. Aber ihre Stärke hatte ihnen wenig genützt. Corella war an
Ondrien gefallen, und anscheinend ohne allzu großen Widerstand. Weder der
Tempel noch die Häuser, an denen sie vorbeigekommen waren, wiesen nennenswerte
Beschädigungen auf.
    »Sollen wir sie hereinholen?«, fragte Seelenbrecher Avin. Der
kahlgeschorene Kopf mit dem siebenzackigen Stern ließ ihn älter aussehen, als
er dem glatten Gesicht nach war.
    »Ja, tut das. Hier drin wird es gehen. Öffnet die Tore weit und
versammelt das Volk vor dem Tempel. Meine Krieger werden euch helfen, unsere
neuen Untertanen zusammenzutreiben. Wer nicht schnell genug herauskommt, dessen
Haus zündet an.«
    Er gluckste ein Lachen. Die Vorstellung gefiel ihm.
    Lióla hatte das Götterbild kaum umrundet – die Rückseite war noch
schäbiger, man hatte sie kaum ausmodelliert –, als auch schon zwei Krieger die
Opfer hereinbrachten. Avin hatte nicht übertrieben. Ihre glasigen Augen
bewiesen, dass sie gut vorbereitet worden waren, auch Pnemaja. Auf den ersten
Blick fand Lióla keine Fehler in der Position der Runen, die den dreien auf
Stirn, Hände und Füße gemalt worden waren. Auch schwere Verletzungen waren
nicht zu erkennen, die Folter war also mit der gebotenen Behutsamkeit
durchgeführt worden. Vielleicht gab es Blutergüsse unter der Kleidung, aber das
wäre unerheblich. Gerissene Muskeln wären ärgerlich gewesen und auch
Knochenbrüche. Sie wuchsen während der Umwandlung meist schief zusammen. Die
Ritualgewänder der beiden Terron-Priester waren sauber und unversehrt, nur
Pnemajas Toga hatte unter dem Marsch gelitten, aber nicht übermäßig. In
gewisser Weise war dies ein Festtag für die drei, der prächtige Kleidung
verlangte. Es war ihr letzter Tag als Menschen. Lióla kicherte.
    Pnemaja erkannte sie nicht. An der widerstandslosen Art, wie sich
die Opfer auf die Positionen führen ließen, die Lióla ihnen anwies, war zu
erkennen, dass ihr Wille vollständig gebrochen war. Oder sie schauspielerten
gut. Einmal hatte Lióla das erlebt. Damals war es sehr mühsam geworden, für
alle Beteiligten. Den Willen eines Opfers während einer Zeremonie zu brechen,
ohne den Körper zu entwerten, erforderte neben Entschlossenheit auch Geduld,
obwohl es nicht zu lange dauern durfte, damit die Hoffnung der Zuschauer nicht
zu hoch stieg.
    Lióla ließ die Kissen aus ihrer Sänfte an die Wand unmittelbar neben
dem Tor bringen und setzte sich darauf. Während draußen die Menschen zusammengetrieben
wurden, schloss sie die Augen und suchte die Schatten in sich. Sie ließ sich
Zeit dabei, nahm nur am Rande wahr, wie das Gemurmel der Menge immer lauter
wurde. Die innere Dunkelheit faszinierte sie. Manche Menschen wussten nichts
von den Abgründen ihrer Seelen, dabei waren sie so unermesslich. Eine der
zentralen Lehren des Kults bestand darin, dass man das Gewissen überwinden
musste, jenen Wächter der Schwäche, der eifersüchtig auf die Stärke war, die in
der Dunkelheit lag. Dies war die echte Kraft, über die ein Mensch gebot, nicht
die Muskeln, die im Kult des Stiergotts gestärkt wurden. Wer die Finsternis
meisterte, der konnte hundert Krieger unter

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