Feind
seinen Willen zwingen.
Als Lióla die Augen aufschlug, sah Avin sie erwartungsvoll an.
»Alles ist bereit, Dunkelruferin. Ich werde Euch zur Hand gehen, wenn es Euch
gefällt.«
Huldvoll nickend erhob sie sich.
Die Opfer standen noch immer an exakt den Stellen, auf die sie sie
beordert hatte, gut sichtbar für die Menge. Sie trat an Pnemaja heran. Noch nicht
einmal ihr brünettes Haar war durch die Anstrengungen der vergangenen Tage in
Mitleidenschaft gezogen worden. Sie wickelte eine Locke um ihren Finger und
roch daran. Sie war frisch gewaschen worden, sogar mit Duftöl. Es war sicher
nicht leicht gewesen, das auf der letzten Etappe der Reise zu arrangieren. Avin
taugte etwas. Sie würde ihn im Auge behalten. Wenn er immer so gute Arbeit
leistete, würde sie ihn an die Kathedrale von Karat-Dor holen.
Lióla ging weiter zu der milirischen Priesterin und glättete ihre
Stola, damit man die heiligen Symbole darauf erkennen konnte. Sie glänzten
hell, aber echten Silberfaden hatte man sich wohl in diesem abgelegenen Ort
nicht leisten können. Zwar wäre auch das Mondmetall kein ausreichender Schutz
gegen die Zeremonie gewesen, aber Baron Gadior hätte Silber als Gabe sicher zu
schätzen gewusst. Schade. Doch mit den Kristallen würde Lióla auch so das
Wohlwollen ihres Meisters erlangen.
Sie begutachtete den Mann, dann schritt sie durch das Tor und sah
auf die Menge. Etwa eintausend Menschen mochten es sein, die hier versammelt
waren: Frauen, Alte und so viele Kinder, wie man brauchte, um die nächste
Generation nicht zu gefährden. Es war wie mit Getreide, man musste immer etwas
Saatgut übrig lassen. Die Schattenherren wünschten nicht, die Menschen
auszumerzen. Sie beherrschten sie, und sie wiesen ihnen den Platz zu, der ihnen
gebührte.
»Hört und seht!«, rief Lióla. »Erkennt, wie vergeblich euer Hoffen
ist! Eure Götter haben keine Kraft mehr! Eitel ist die Hoffnung, die ihr auf
sie werft! Gebt euch den Schatten hin, nur darin liegt Kraft für euer Leben!«
»Terron!«, rief jemand verzweifelt den Namen des Stiergotts an.
Lióla brauchte keinen Befehl zu geben, die Krieger wussten auch so, was zu tun
war. Der Mann würde das Morgengrauen nicht mehr sehen. Ondrien war jetzt Herr
über Corella, und Ondrien duldete keine Aufsässigkeit.
»Werdet Zeugen des Schicksals eurer Priester und lernt daraus!«
Zwei Stunden dauerte die Zeremonie. Lióla las aus dem Buch der
Schatten, von der Macht, die neidische Götter den Sterblichen vorenthielten,
von der Lächerlichkeit, mit der ihre Diener bei ihnen um Zuflucht jammerten.
Von Stolz und Stärke der Schattenherren, die ihnen entrissen hatten, was sie
begehrten. Von ihrer unbeschränkten Herrschaft und davon, dass von der Gnade
der Osadroi alles abhing. Auf den Wink eines ondrischen Grafen konnten Städte
geschleift und Flüsse vergiftet werden. Keine Schöpfung der Götter bot Schutz,
wo ihr Zorn loderte. Ihre Finsternis erstickte alles Licht.
Nach dem Vortrag wurden die Trommeln geschlagen, die bis kurz vor
dem Ende des Rituals nicht mehr verstummen sollten. Lióla überließ Avin die
Ehre, den Opfern den ersten Trunk zu reichen. In der goldenen Amphore wallte
Dunkelheit. Es war eher Rauch als Flüssigkeit, aber der Rauch war schwerer als
Luft, deswegen konnte man ihn in die geöffneten Münder gießen. Lióla hatte
einmal die Ehre gehabt, dabei zu sein, als Baron Gadior diese Substanz
hergestellt hatte. Zehn Menschen hatten ihre Lebenskraft gegeben, um eine
solche Amphore zu füllen. Dazu kam das Blut von fünf Schädeleulen. Auch einige
Tropfen anderer Substanzen hatte der Schattenherr hineingeträufelt, aber sie
hatte nicht gewagt, ihn zu fragen, worum es sich dabei gehandelt hatte. So
vorsichtig, wie er die Mengen abgemessen hatte, musste es sich um sehr
wertvolle Ingredienzien handeln. Die Anrufungen, die er danach vollführt hatte,
um die mystischen Kräfte unter seinen Willen zu zwingen, überstiegen vollends
Liólas Begreifen.
Das gegenwärtige Ritual dagegen war leicht auszuführen. Auch der
Seelenbrecher hätte es vermocht. Die Kraft war in der Dunkelheit in der Amphore
gebunden, die jetzt nur noch verabreicht werden musste. Der einzige Fehler, der
dabei unterlaufen konnte, war, dass man zu rasch vorging. Das Gift durfte nicht
zu schnell wirken. Man musste dem Körper Zeit zum Sterben lassen.
Auch den zweiten Trunk ließ sie den Seelenbrecher einflößen,
woraufhin seine Brust vor Stolz anschwoll. Die Opfer fügten sich stoisch. Nach
der Tortur
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