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Feind

Feind

Titel: Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Corvus
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ein Gesicht, in dem es keine
Unebenheiten gab, keine Nase, keinen Mund, keine Augen. Nur Rauch.
    Und der Rauch lichtete sich, ließ dunkle Schemen erahnen. Obwohl sie
sich nicht rührte, von ihren Fingern abgesehen, die sich immer fester um den
Schwertgriff krallten, als wolle sie sich daran festhalten, hatte Ajina das
Gefühl, sich zu bewegen. Zu schwanken. Zu fallen. Aber nicht nach unten,
sondern dem Rauch entgegen. Schnell füllten die Schlieren ihre gesamte Sicht
aus. Es gab nichts mehr außer dieser Welt aus Rauch.
    Und darin wandelten körperhafte Schemen. Die erkannte sie jetzt
deutlicher, graue Gestalten, Menschen, die durch ein Land ohne Boden wandelten,
ohne Pflanzen oder Gebäude, und die sich auch gegenseitig nicht zu sehen
schienen, denn sie beachteten einander nicht. Ajina passierte einige von ihnen,
kam anderen näher, war wie ein Rabe, der durch den Rauch einer brennenden Stadt
flog, in dem die Geister der Verbrannten trieben. Immer schneller glitten die
Schemen an ihr vorbei. Da sie keinen anderen Anhaltspunkt als die grauen
Gestalten hatte, konnte sie nicht entscheiden, ob sie selbst sich immer
schneller bewegte oder ob die Figuren an ihr vorbeizogen. Nur ganz schwach
flüsterte eine Stimme in ihr, dass sie in dem dunklen Stollen stand, unbewegt,
und in ein ebenso unbewegtes Gesicht aus Rauch starrte. Sie wusste nicht, wie
viel Zeit verging.
    Der Flug verlangsamte sich. Sie hatte das Gefühl, der Rabe, durch
dessen Augen sie sah, suche etwas. Er fand einen Schemen, der nicht aufrecht
stand, sondern merkwürdig verrenkt im Rauch hing, als läge sein Rücken auf einem
runden Felsen, Arme und Beine zu Boden gestreckt. Sie näherte sich dieser
Gestalt weiter, als sie es bei den anderen getan hatte.
    Und hörte sich schreien.
    Sie erkannte die Züge des Schemens, obwohl sie von Qual verzerrt
waren. Es war das Gesicht ihres Vaters, das sie betrachtete. Sein Schrei war
stumm, der ihrige umso lauter. Er schmerzte im Hals, aber das war nichts gegen
die Pein, die ihr Vater offensichtlich litt. Jetzt, da sie wusste, wer vor ihr
lag, wurde die Gestalt immer deutlicher. Sie tauschte sogar das Grau gegen
Farben, die der Wirklichkeit entnommen waren. Die Haut von Modranels Gesicht
war stark gerötet, als sei sie einem heißen Wind ausgesetzt. Auch der Bart
rauchte, obwohl sie kein Feuer in den Haaren sah. Modranels nackter Körper war
abgemagert, die Rippen deutlich zu sehen. Zwischen ihnen pulsierte ein
schwarzes Herz, dessen Finsternis durch den Körper drang wie das Leuchten einer
Laterne durch dünnes Pergament.
    »Nein!«, schrie Ajina. »Vater bereut! Er hat sich von der Finsternis
abgewandt!«
    Wer immer ihn quälte, schien nicht zu diesem Schluss gekommen zu
sein. Spieße aus loderndem Feuer schossen von unten herauf, durchdrangen den
dünnen Körper, Arme, Beine, den Leib, sogar den Kopf. Nur das schwarze Herz
ließen sie unberührt. Jeder Mensch hätte an diesen Wunden sterben müssen, aber
nicht Modranel. Nicht in dieser Welt aus Rauch. Er lebte und litt. Die Qual
trieb seine Augen aus den Höhlen.
    »Gnade!«, wimmerte Ajina. »Vater hat sich gegen die Schatten
gestellt! Ihr Götter, habt Erbarmen!«
    Die Flammenspieße verschwanden, aber Ajina zweifelte zu Recht daran,
dass die Folter damit beendet war. Leuchtend weiße Skorpione fielen aus dem
Nichts auf den sich in unsichtbaren Ketten windenden Körper. Ihre Scheren
schnitten tausend kleine Wunden in die Haut, die nicht bluteten, sondern
rauchten. Die Stacheln spritzten eine Säure in den Körper, die das Fleisch
Blasen werfen ließ. Bald waren so viele Skorpione auf ihm, dass Modranels
Körper unter dem weißen Gewimmel verschwand. Sie krabbelten in seinen stumm
schreienden Mund, rissen an seinen Augen, schnitten die Ohrmuscheln ab.
    Ajina wollte sie fortwischen, aber hier hatte sie keine Hände,
konnte nur beobachten, nicht handeln. Sie war ja nicht wirklich dort.
    Ich bin nicht wirklich dort.
    Langsam sickerte der Gedanke in ihr Bewusstsein. In ihrer
Verzweiflung klammerte sie sich daran. Ich bin nicht
wirklich dort. Ich bin in der Mine. Nicht in dieser Welt aus Rauch, die gar
nicht existiert. Ein Ort, den es nicht gibt. Nur im Kopf dieses Wesens aus
Finsternis. Dieses …, sie suchte das Wort, …
Seelenspiegels.
    Nein. Er existiert auch nicht in seinem Kopf.
    Dieses Monstrum sieht in meinen Geist. Es ist
meine eigene Furcht, meine größte Angst, die es spiegelt.
    Ajina bot ihren gesamten Willen auf, und unendlich langsam schloss
sie die

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