Feind
Es gibt genug Weichherzige.«
»Du scheinst nicht dazuzugehören.«
Er hielt ihrem Blick stand. »Ich wollte ihnen sogar beim Suchen
helfen, aber dann befahl man mir, Euch mit Ritter Lucino zu helfen.«
»Sie suchen sich Wurzeln und Beeren in den Hügeln?«, riet sie.
Langsam schüttelte er den Kopf. »Sie haben nach Gelaja gesucht.
Einer von ihnen.«
»Haben sie sie gefunden? War sie bei ihnen, als sie zurückkamen?«
»Nein. Die Kleine hat feuerrotes Haar. Ich hätte sie erkannt.«
»Dann muss sie die ganze Nacht allein dort draußen bleiben?«, rief
Ajina. »Und erst nach Sonnenaufgang geht die Suche weiter?«
»Nach Sonnenaufgang wird es niemanden mehr geben, nach dem man
suchen könnte.«
»Die Seelenspiegel!«, fiel ihr ein.
Er wandte sich ab, um das Gesicht des Toten mit einem Tuch zu
bedecken.
»Wenn es diese Biester gibt, könnt ihr das Kind doch unmöglich
seinem Schicksal überlassen!«
»Falsch! Weil es sie gibt, können wir nicht den Kreis der Lichter
verlassen! Selbst die Lagerfeuer halten sie nicht immer fern! Was glaubt Ihr,
warum dieser Tempel so überfüllt ist?«
»Heiliger Boden …«, murmelte Ajina.
Der Knappe ordnete Beine und Arme der Leiche so an, wie es wohl
seiner Vorstellung von Würde entsprach. Dann legte er die Hände des Toten auf
dem Brustpanzer zusammen, nahm das Schwert auf und wollte es dem Ritter für
seine letzte Reise darunter schieben.
»So feige kann ein Kämpfer doch gar nicht sein!«, rief Ajina und
entriss ihm die Waffe. »Ist diese Klinge geschmiedet, um der Zierde eines Toten
zu dienen? Oder um für das zu streiten, woran er geglaubt hat?«
Die Kiefer des Knappen mahlten aufeinander. »Kühne Worte. Wenn Ihr
ihnen Taten folgen lassen wollt, werde ich Euch nicht aufhalten.« Er zeigte zu
den Hügeln. »Die Gnome haben Gelaja nicht gefunden, aber die Richtung, in der
sie gesucht haben, bleibt die wahrscheinlichste. Versucht dort Euer Glück. Wenn
Ihr eine geflügelte Gestalt vor den Sternen kreisen seht, seid Ihr Eurem Ziel
nah. Sie sind wie Geier.«
Mit einem unartikulierten Schrei, das Schwert in der Hand, rannte
Ajina hinaus und die Treppe hinunter. Wenn hier alle zu feige waren – sie würde
ihnen zeigen, was Mut war! Sie würde sich nicht zurückhalten lassen! Erst recht
nicht von der Furcht vor einem Fabelwesen, mit dem Großmütter ihre Enkel
erschreckten! Sie würde das Mädchen finden, und niemand, niemand würde sie
aufhalten!
Sie war schon weit abseits der Lagerfeuer, hoch am Hang, als ihr
Zorn verrauchte. Sie erkannte, dass sie nicht klug handelte. Auch wenn es keine
Seelenspiegel gab – mit einem hatte der Knappe recht, denn die Zeiten waren
hart. In den Hügeln konnten sich Räuber verbergen, die bereit wären, für Brot
zu töten. Oder für ein wertvolles Schwert. Zweifelnd
sah sie auf die Waffe, konnte sie in der Dunkelheit aber kaum erkennen. Sie zog
die Klinge halb aus der Scheide, stieß sie wieder zurück. Ich
bin keine Kriegerin. Sie würde sich eher selbst verletzen, als jemanden
ernsthaft zu bedrohen. Zum tausendsten Mal wünschte sie sich, ihr fiele eine
Möglichkeit ein, den Riss zwischen Helion und ihr zu schließen. Sie wusste
nicht, woran es lag, dass er sie seit ihrem Aufbruch abwies. In Akene hatte sie
ihn interessant gefunden, anziehend. Sie hatte sich eingebildet, dass es
umgekehrt ebenso gewesen war. Aber darin hatte sie sich wohl getäuscht. Wenn er
sie gemocht hatte, dann nicht genug, um hintanzustellen, was auch immer er ihr
vorwarf. Vielleicht war es auch so, wie er behauptete, dass sie eine Adepta war
und er ein Paladin, dass er sie beschützte und mehr nicht. Hatte er eine
Anweisung seiner Oberen erhalten? Hatten diese ihm befohlen, Gefühle, die seine
Sicht trüben mochten, abzutöten?
»Wenn er mich beschützen will, wo ist er dann jetzt?«, flüsterte sie
in die leere Dunkelheit.
Wahrscheinlich war er schon wieder dabei, Deria das Fechten
beizubringen. Das hatte er an den vergangenen Abenden immer gemacht. Bei ihr
schien er keine Ängste vor der Nähe zu haben. Genauso wenig wie bei Pepp und
Karseus. Oder Estrog, dem Barbarenhäuptling, mit dem ihn eine dieser rauen
Freundschaften verband, die Männer gern pflegten. Die fünf trafen sich jeden
Abend.
Ajina war kurz davor, umzukehren, als sie ein Kind schreien hörte.
Der verzweifelte Laut jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Etwas in ihr
wollte fliehen, aber der weitaus stärkere Teil folgte dem Pfad, den sie mit
Eintritt in die Schwesternschaft der
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