Feindberührung - Kriminalroman
siebenjähriger Junge, das musste Kevin sein. Eine Frau, die ihr recht ähnlich sah, hielt Samantha Rems untergehakt, fraglos ihre Schwester, dazu noch deren Mann mit zwei Kindern, ein etwa zehnjähriges Mädchen und ein Junge in Kevins Alter.
Grewe setzte sich schnell in Marsch zurück zur Einsegnungshalle. Etwas ließ ihm keine Ruhe: Er kannte diesen Hauptmann. Es war keine gute Erinnerung, aber er konnte sie nicht recht fassen.
» So, die Trauergemeinde ist jetzt vollzählig in der Halle. Bewegt sich da was bei euch?«
Fuchs hörte in seinen Ohrstöpsel auf die Antwort.
» Alles klar, danke. Bis denne.« Er ließ den Sprechknopf los und guckte Grewe mit Kopfschütteln an.
» Alles ruhig weiterhin.«
» Na, hoffentlich bleibt das so.« Grewe trat unruhig auf der Stelle.
» Schon komisch. Durch die vielen Soldaten vergisst man fast die Umstände von Rems’ Tod. Man denkt, er ist, ja, gefallen, oder?« Therese sah die Kollegen der Reihe nach an.
» Ach Gott, Therese, von uns sterben auch Leute im Dienst, und da gibt’s nie so ein Bohei. In Amiland spielt bei toten Bullen der Dudelsack, und es gibt Salutschüsse am Grab.« Estanza gab sich breitbeinig.
» Vielleicht würde es uns guttun, wenn es etwas mehr Bohei gäbe bei einem von uns. Und denen auch.« Sie zeigte mit dem Kinn in Richtung Einsegnungshalle. Estanza zog eine Grimasse.
» Also, ich finde, die kriegen doch ganz anständige Trauerfeiern mittlerweile. Mit Bundeskanzlerin und Verteidigungsminister und Fahnen und so.«
» Ja, aber wenn die Fußballnationalmannschaft verliert, ist mehr Trauer im Volk als bei einem toten Soldaten oder Bullen, findest du nicht?« Therese wurde sauer.
» Aber das ist doch auch eine Katastrophe. Ich wette immer auf die Idioten!« Fuchs versuchte, für Entspannung zu sorgen. » Und wenn ich dann mal auf Niederlage setze, dann können die auf einmal wieder richtig Fußball spielen.«
Grewe entfernte sich kommentarlos von der Gruppe und ging Richtung Halleneingang. Der rechte Türflügel war nicht ganz zugefallen, so konnte er unbemerkt hineinschlüpfen. Der Pfarrer sprach noch. Es war das Übliche, nichts von seiner Rede blieb einem im Gedächtnis. Wahrscheinlich kannte er Rems gar nicht.
In der ersten Reihe saßen die Angehörigen, Samantha Rems schluchzte unaufhörlich, ihre Schwester streichelte ihren Rücken. Kevin saß steif und unbewegt neben seiner Mutter. Was kam bei diesem Jungen an, fragte sich Grewe. Er hatte seinen Vater ja eigentlich schon vor dessen Tod verloren. Und jetzt war wirklich alles aus. Was hatten die Erwachsenen ihm überhaupt drüber gesagt?
Grewe war Mitte dreißig gewesen, als sein Vater starb. Er war bei einem Lehrgang in Norddeutschland gewesen und hatte es von einem Freund der Eltern am Telefon erfahren; es war völlig überraschend gekommen. Herzinfarkt.
Grewe erinnerte sich noch genau; das Erschütterndste war die Erkenntnis gewesen, dass es unumkehrbar war. Er würde nie mehr mit seinem Vater sprechen, ihn nie mehr umarmen, sich nie mehr über ihn ärgern, ihn nie wieder anrufen, weil etwas Gutes passiert war, er etwas geschafft hatte, worauf sein Vater sicher stolz sein würde. Zum ersten Mal war in Grewes Leben etwas Dramatisches geschehen, das nicht mehr zu ändern war. Das war das Schlimmste. Abgesehen davon, dass er nicht bei ihm sein konnte, als er starb.
Als seine Mutter wenige Jahre danach unheilbar an Blutkrebs erkrankte, bewegte sich Grewe über Monate nie für länger als einen Tag aus der Stadt hinaus. Und so konnte er ihre Hand halten, als es soweit war.
Er hatte all diese Erfahrungen bewusst gemacht. Er wusste, wer sein Vater war. Wusste, dass der ihn geliebt hatte und glücklich über das Leben seines Sohnes war. Sein Vater hatte alle Enkel im Arm gehalten, oft. Und Grewe spürte den eigenen Vater in sich. Gutes und Schlechtes.
Kevin wuchs ohne all das auf. Eine diffuse Erinnerung, die letzten Monate überschattet von der Trennung und dann ein unvorstellbar gewaltsamer Tod, dessen Umstände noch nicht endgültig geklärt waren.
Deswegen war er Mordermittler geworden. Das hielt ihn aufrecht, und das trichterte Grewe auch immer und immer wieder den Kollegen ein. Sie taten einen wichtigen Dienst, nicht nur an der Gesellschaft oder abstrakt dem Recht, nein, an den Toten und vor allem den Hinterbliebenen. Wenn die Polizei ihre Arbeit gut machte, dann bot das die Chance auf Befriedung, auf Abschluss und Neubeginn. Kevin Rems hatte ein vitales Recht darauf, irgendwann
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