Feindberührung - Kriminalroman
genau zu wissen, warum sein Vater so gestorben war. Und wer das Messer in den Körper gestoßen hatte, wieder und wieder.
Wieder und wieder.
Grewe fröstelte plötzlich, ein leichtes Zittern durchlief ihn, wie bei einem Blutzuckerabfall.
Es passte nicht.
Es passte überhaupt nicht.
Dieser eine, präzise, ja klinisch sauber und perfekt tödlich gesetzte Stich. Und die vielen weiteren, wahllosen Stiche in den schon wehrlosen, vermutlich sogar längst toten Körper.
Kälte oder Wut?
Eines nur ging.
Oder war der Mörder so kalt gewesen, dass er Wut vortäuschen wollte? Wer kam auf so einen Gedanken? Wollte er die Kälte vor sich selbst verdecken, erschrak er davor? Sollten alle denken, dass hier Wut im Spiel war, Hass, und in Wirklichkeit gab es ganz geschäftsmäßige Gründe für den Mord?
Drossel hatte von Anbeginn an darauf gepocht, dass hier einiges nicht zusammenpasste. Er hatte mal wieder recht gehabt, das sah Grewe jetzt ganz klar. Waren sie vom Weg abgekommen? Über den Kern hatten sie kaum noch gesprochen, über die Frage: warum? Die Ereignisse der letzten Woche hatten die Ermittlung überrollt. Sie hatten keine falschen Entscheidungen getroffen, nein, das brauchten sie sich nicht vorzuwerfen, aber sie waren noch nicht in der Nähe des Ziels. Das Bild war unklar, genauso hatte es Gerd ausgedrückt. Sie brauchten Klarheit.
Der Pfarrer war fertig, er saß jetzt neben den Angehörigen. Von irgendwoher kam Musik, Gitarre und Percussion. Grewe kannte das Lied, kam aber nicht drauf, welches es war. Die meisten wussten aber offensichtlich gleich Bescheid, denn es ging schon bei den ersten Takten tiefe Bewegung durch die Anwesenden; einige der Soldaten hielten die Hand vor den Mund und kniffen die Augen fest zusammen. Als der Sänger einsetzte, fiel es Grewe sofort ein: » Abschied nehmen« von Xavier Naidoo. Es ging um einen Freund, der lange gekämpft, aber doch verloren hatte. Um die Scham der Zurückgebliebenen und den Schmerz.
Passte. Furchtbar.
Einige der grauen Uniformröcke beugten sich zitternd vornüber, Arme legten sich über breite Schultern.
» Was machen wir jetzt ohne unsern Held?«, sang der Sohn Mannheims.
Auch die zwei Reihen mit zivil gekleideten Trauergästen zwischen Soldaten und Familie wurden heftig geschüttelt, die meisten waren offensichtlich Kameraden von Rems. Warum sie nicht in Uniform hier waren, die anderen aber doch, erschloss sich Grewe nicht recht, das wollte er bei Gelegenheit nachfragen.
» Ich werd dich wiedersehen«, mit dieser Zeile lief die Musik aus.
Grewe dachte an den Song, den er sich im Stillen schon lange für seine eigene Beerdigung ausgesucht hatte, » All is well«, vor allen Dingen wegen der Zeile » Weep not, my friends, my friends weep not for me, all is well«.
Er wollte schon gehen, um die Trauergemeinde nicht zu stören, wenn sie sich aufmachte zum Grab, als in der letzten Reihe der Soldaten Unruhe entstand. Der ältere Hauptmann, den Grewe zu kennen glaubte, stand auf, mit ihm noch fünf Feldwebel. Der Hauptmann hatte ein gefaltetes Stoffpaket unterm Arm. Die Soldaten gingen gemessenen Schrittes nach vorn, sie hatten ihre Barette aufgesetzt. Der Oberst sah sie entsetzt an. Was ging da vor?
Die Soldaten stellten sich um den Sarg, drei Mann auf jeder Seite; der Hauptmann hob das Stoffpaket und begann es aufzufalten, dabei half erst sein Nebenmann, dann nach und nach die anderen Soldaten.
Eine Bundesflagge.
Als sie von allen sechs Männern gehalten über dem Sarg schwebte, wurde wieder Musik eingespielt. Streicher und Bläser. Filmmusik aus einer amerikanischen Fernsehserie über US-Fallschirmjäger im Zweiten Weltkrieg. Grewe hatte die Serie damals heimlich geguckt, sie lief immer spät. Stina hätte sich böse Kommentare nicht verkneifen können …
Die Soldaten saßen kerzengerade in den Reihen.
Zuerst standen Einzelne, dann alle Fallschirmjäger auf und nahmen Grundstellung ein. Schließlich auch Oberst Pagels und Major Radványi.
Nach dem Ende der Musik falteten die Männer auf ein Kopfnicken des Hauptmanns die Flagge sorgfältig zusammen, traten vom Sarg weg, und der Offizier ging zur Familie.
Er kniete sich vor Kevin auf den Boden und bot ihm die Flagge an; der Junge nahm sie nach einem Zögern in seine kleinen Hände und hielt sie fest. Der Hauptmann stand auf, trat einen halben Schritt zurück und legte die Hand zum Gruß an die Schläfe. In dieser Stellung verharrte er lange, atemlose Sekunden.
Grewe wollte das nicht, er sträubte
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