Feindbild Islam - Thesen gegen den Hass
im Irak gebe es »erhebliche Datenerfassungsmängel«. Als man für einen bestimmten Tag des Juli 2006 93 offiziell berichtete Gewaltakte näher untersucht habe, habe sich herausgestellt, dass es in Wirklichkeit 1100 Gewaltakte gegeben habe. Ein leitender Mitarbeiter des Bagdader Leichenschauhauses erklärte resigniert: »Wenn bei mir in Bagdad an einem Tag 50 Tote eingeliefert wurden, hörte ich abends im Fernsehen, im gesamten Irak seien gerade einmal zehn Menschen getötet worden. Das machen die absichtlich.«
Eine Untersuchung des unabhängigen britischen Forschungsinstituts ORB vom Januar 2008 kommt auf über eine Million getötete und ebenso viele verwundete Iraker. In Bagdad habe fast jeder zweite Haushalt ein Mitglied verloren. Saddam Hussein hatte in den 23 Jahren seiner Herrschaft laut »Human Rights Watch« den Tod von 290 000 irakischen Zivilisten zu verantworten.
Wie nicht anders zu erwarten, sind die »Lancet«-Studie und die ORB-Analyse auf empörten Widerspruch aller am Krieg beteiligten Regierungen gestoßen. Die wirklichen Zahlen werden wir nie erfahren. Wer will schon die mörderische Wahrheit eines Krieges der Lügen wissen?
Inzwischen ist die Zahl der täglichen Todesfälle im Irak zurückgegangen. Aber noch immer herrscht Chaos. Der Bevölkerung geht es heute schlechter als unter Saddam Hussein (Kofi Annan). Es dürfte nicht viele Iraker geben, die sagen: »Großartig, unser Land ist zerstört, Hunderttausende Mitbürger sind tot, Millionen sind noch immer auf der Flucht, das friedliche Miteinander der Religionen ist zerbrochen, die Kindersterblichkeit ist eine der höchsten der Welt, es gibt kaum Strom, Wasser und Medikamente, Arbeitslosigkeit und Inflation sind auf über 50 Prozent gestiegen, auf die Straße kann man auch kaum noch – aber es hat sich gelohnt, Saddam ist weg.« Die einzigen Nutznießer dieses Chaos sind der Iran und der politische Extremismus.
Ist es da eine Überraschung, dass nach der letzten Umfrage von BBC und ABC 80 Prozent aller Iraker, egal ob Schiiten oder Sunniten, den Abzug der fast 50 000 noch im Irak stehenden US-Truppen fordern? Von den zahllosen privaten »Sicherheitsfirmen« à la Blackwater ganz zu schweigen.
Nicht ein einziges Mal in den letzten zweihundert Jahren hat ein muslimisches Land den Westen angegriffen. Die europäischen Großmächte und die USA waren immer Angreifer, nie Angegriffene. Seit Beginn der Kolonialisierung wurden Millionen arabische Zivilisten getötet. Der Westen führt in der traurigen Bilanz des Tötens mit weit über 10 : 1.
Die aktuelle Diskussion über die angebliche Gewalttätigkeit von Muslimen stellt die historischen Fakten völlig auf den Kopf. Der Westen war und ist viel gewalttätiger als die muslimische Welt. Nicht die Gewalttätigkeit der Muslime, sondern die Gewalttätigkeit einiger westlicher Länder ist das Problem unserer Zeit. Wir haben die Muslime in den letzten Jahrhunderten gnadenlos unterdrückt.
Es ist zynisch, wenn westliche Geistesgrößen nun mit sorgenvoller Miene fragen, wie es denn zum Niedergang der einst »militärisch, ökonomisch und kulturell weit überlegenen arabischen Zivilisation« kommen konnte (Hans Magnus Enzensberger). Der Westen hat durch die Kolonialisierung, mit der er seine eigene Industrialisierung finanzierte, entscheidend dazu beigetragen. Er hat bei seinem Rückzug aus den Kolonien ausgeplünderte und ausgeblutete Länder zurückgelassen.
Zu Beginn der Kolonialisierung Algeriens im Jahr 1830 betrug dessen Alphabetisierungsquote 40 Prozent. Sie war damit mindestens so hoch wie die Frankreichs. Die einmarschierenden französischen Soldaten waren ungebildeter als das Volk, das sie zivilisieren sollten (Eric Hobsbawm). 1962, beim Abzug der französischen Besatzungstruppen, lag die Alphabetisierungsquote Algeriens unter 20 Prozent.
Der Kolonialismus hat der arabischen Welt – in einer weltwirtschaftlich entscheidenden Zeit – weit über hundert Jahre Entwicklung gestohlen. Resigniert stellte Tocqueville 17 Jahre nach der Eroberung Algeriens durch Frankreich fest: »Die Lichter sind erloschen. Wir haben die muslimische Gesellschaft ärmer, unwissender und unmenschlicher gemacht.«
2. Nichts fördert den Terrorismus mehr als die »Antiterror-Kriege« des Westens. Sie sind ein Terrorzuchtprogramm.
Der westliche Kolonialismus wütete in fast allen Teilen der Welt. Aber in den erdölreichen Staaten des Mittleren Ostens hat er bis heute nicht wirklich aufgehört. Das unterscheidet diese
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