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Feinde der Krone

Feinde der Krone

Titel: Feinde der Krone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Wenn sie tot wären, welchen Wert hätte das Leben dann noch für ihn?
    Er sah den gebrochenen alten Mann vor sich an, den das Bewusstsein des erlittenen Verlusts so sehr geprägt hatte, dass es die Luft im Zimmer zu erfüllen schien, und mit einem Mal empfand Pitt selbst den Schmerz dieses Mannes. Ginge es ihm in einer solchen Situation anders? War es nicht dumm und unglaublich überheblich zu glauben, er dürfe sicher sein, dass er nie bei einem Medium, in Tarotkarten, Kaffeesatz oder irgendetwas anderem Trost suchen würde, damit sich die Leere füllte, inmitten derer er in einer Welt voller Fremder lebte, zu deren Herz er keinen Zugang hatte?
    »Zumindest hoffe ich das«, sagte er. »Aber ich weiß es natürlich nicht.«
    Tränen traten in Wrays Augen und liefen ihm über die Wangen, ohne dass er blinzelte. »Haben Sie Familie, Mr. Pitt?«
    »Ja, Frau und zwei Kinder.« Verstärkte er damit den Schmerz des anderen, dass er ihm das sagte?
    »Sie dürfen sich glücklich schätzen. Sagen Sie ihnen alles, was Sie für sie empfinden, solange Sie Gelegenheit dazu haben. Lassen Sie keinen Tag vergehen, ohne Gott für das zu danken, was er Ihnen geschenkt hat.«
    Pitt bemühte sich, wieder an die Aufgabe zu denken, die ihn hergeführt hatte. Er sollte sich ein für alle Mal vergewissern, dass Wray keinesfalls der Mann war, den die Kartusche
in Maude Lamonts Tagebuch bezeichnete. »Ich will es versuchen«, sagte er. »Leider muss ich nach wie vor alles mir Mögliche tun, um Maude Lamonts Tod zu verstehen und dafür zu sorgen, dass nicht der Falsche dafür zur Rechenschaft gezogen wird.«
    Wray sah ihn verständnislos an. »Sofern es sich um eine gesetzwidrige Tat gehandelt hat, ist das doch bestimmt eine Sache für die Polizei. Ich kann natürlich gut verstehen, dass Sie die da nicht mit hineinziehen wollen, weil das die Seelenqual noch steigern könnte, aber ich denke, aus moralischen Gründen bleibt Ihnen keine andere Wahl.«
    Pitt empfand heftige Scham, weil er diesen Mann in die Irre geführt hatte. »Die Polizei beschäftigt sich bereits mit dem Fall, Mr. Wray. Zu den drei an jenem letzten Abend Anwesenden gehört auch die Gattin eines Mannes, der für das Unterhaus kandidiert, doch einem Dritten ist es bisher gelungen, seine Identität geheim zu halten.«
    »Und Sie wollen also wissen, wer das ist?«, fragte Wray in einem Augenblick erstaunlicher Klarsichtigkeit. »Selbst, wenn ich es wüsste, Mr. Pitt, weil es mir jemand im Vertrauen mitgeteilt hätte, wäre es mir nicht möglich, Ihnen das Geheimnis zu verraten. Ich könnte nicht mehr tun, als ihm mit allem mir zu Gebote stehenden Nachdruck zu raten, sich Ihnen zu offenbaren. Das aber würde bedeuten, dass ich schon vorher mit ihm gerungen hätte, um zu erreichen, dass er von einem so sündhaften und gefährlichen Unterfangen ablässt, wie es die Beschwörung von Geistern von Toten ist. Der einzig zulässige Weg, Wissen über solche Dinge zu erlangen, ist das Gebet.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Wie sind Sie nur auf den Gedanken gekommen, dass ich Ihnen helfen könnte? Ich verstehe das nicht.«
    Rasch improvisierte Pitt. »Sie sind weithin bekannt wegen Ihres Wissens um diese Dinge und Ihre standhafte Gegnerschaft. Daher hatte ich angenommen, dass Sie mir etwas Nützliches über spiritistische Medien sagen könnten, insbesondere über Miss Lamont. Ihr Ruf reicht sehr weit.«
    Wray seufzte. »Bedauerlicherweise ist das wenige, was ich weiß, lediglich ganz allgemeiner Art. Hinzu kommt, dass mein
Gedächtnis nicht mehr so gut ist wie in früheren Jahren. Es lässt mich mitunter im Stich, und ich muss leider sagen, dass ich mich gelegentlich wiederhole. So erzähle ich Witze, die mir gefallen, zu oft. Die Menschen verhalten sich mir gegenüber sehr freundlich, doch wäre es mir fast lieber, sie täten es nicht. Jetzt weiß ich nie, ob ich etwas, was ich sage, vorher schon einmal gesagt habe oder nicht.«
    Pitt lächelte. »Mir haben Sie nichts zweimal gesagt.«
    »Ich habe Ihnen auch keinen Witz erzählt«, sagte Wray betrübt. »Außerdem haben wir noch nicht gegessen, und bestimmt zeige ich Ihnen jetzt jede Blume in meinem Garten zweimal.«
    »Blumen sind es wert, dass man sie mindestens zweimal ansieht«, gab Pitt zur Antwort.
    Kurz darauf kam Mary Ann herein, um ihnen ziemlich nervös mitzuteilen, dass das Essen bereitstehe. Die Männer gingen in das kleine Esszimmer, wo sich das Mädchen offensichtlich große Mühe gegeben hatte, alles besonders schön

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