Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feinde der Krone

Feinde der Krone

Titel: Feinde der Krone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
womöglich noch gar nicht zu Mittag gegessen? Bestimmt findet Mary Ann genug für uns beide, vorausgesetzt, dass Sie mit einfacher Kost vorlieb nehmen.«
    Pitt sah sich gehalten, die Einladung anzunehmen. Er musste unbedingt mit Wray sprechen. Es wäre ungehobelt, zwar ins Haus zu gehen, aber die Gastfreundschaft abzulehnen. In dem Fall hätte er die Gefühle dieses Mannes lediglich verletzt, um sein eigenes Gewissen zu erleichtern. Doch auf diese Weise künstlich eine Distanz zwischen ihm und sich selbst zu schaffen würde sein Vorgehen weder weniger zudringlich erscheinen noch seinen Verdacht weniger hässlich wirken lassen. Also nahm er dankend an und folgte Wray ins Haus, in der Hoffnung, die junge Mary Ann würde sich nicht wieder durch seine Anwesenheit bedrängt fühlen.
    Auf dem Weg zur Studierstube sah er sich um, als Wray kurz in der Diele stehen blieb, um mit dem Mädchen zu sprechen. Außer dem Zaumzeug enthielt der Raum einen kunstvoll gearbeiteten Stock- und Schirmständer aus Messing, einen aus Holz geschnitzten Sessel, der auf den ersten Blick aus der Tudor-Epoche zu stammen schien, und mehrere ausgesprochen schöne Zeichnungen kahler Bäume.
    Mary Ann eilte in die Küche, und Wray fragte, als er der Richtung von Pitts Blick folgte: »Gefallen sie Ihnen?« In seiner Stimme lag viel Gefühl.
    »Sehr«, gab Pitt zur Antwort. »Die Schönheit eines kahlen Baumes ist ebenso so groß wie die eines belaubten.«
    »Können Sie das erkennen?« Wie ein Sonnenstrahl an einem Frühlingstag trat ein flüchtiges Lächeln auf Wrays Züge, verschwand aber gleich wieder. »Sie stammen von meiner verstorbenen Frau. Sie hatte die Gabe, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.«
    »Sowie die Gabe, anderen deren Schönheit zu vermitteln«, ergänzte Pitt. Gleich darauf wünschte er, es nicht gesagt zu haben. Er war gekommen, weil er feststellen wollte, ob dieser Mann ein Medium aufgesucht hatte, um etwas von den Menschen zu erhaschen, die er geliebt hatte – im Widerspruch zu allem, was ihn sein ein Leben lang praktizierter Glaube gelehrt hatte. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass Wray diese Frau sogar getötet hatte.
    »Danke«, murmelte Wray und wandte sich rasch ab, um seine Gefühle nicht zeigen zu müssen. Er führte den Besucher in seine Studierstube, einen von Büchern überquellenden kleinen Raum mit einer Dante-Büste auf einem Sockel und einem Aquarell, das eine brünette junge Frau zeigte, die dem Betrachter schüchtern entgegenlächelte. Auf dem Schreibtisch, viel zu dicht an der Kante, stand eine silberne Vase mit Rosen in verschiedenen Farben. Pitt hätte sich gern die Titel von zwei Dutzend der Bücher angesehen, erkannte aber in der kurzen Zeit nur drei: Flavius Josephus’ Über den jüdischen Krieg , Thomas a Kempis’ Über die Nachfolge Christi sowie einen Kommentar zum Heiligen Augustinus.
    »Bitte nehmen Sie Platz, und sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann«, forderte ihn Wray auf. »Ich habe reichlich Zeit und nichts Nützliches mehr auf der Welt zu tun.« Das Lächeln, mit dem er das sagte, zeugte mehr von innerer Wärme als von Glücksgefühl.
    Jetzt gab es keinen Vorwand mehr, die Sache länger hinauszuschieben. »Sind Sie zufällig mit Generalmajor Roland Kingsley bekannt?«
    Wray überlegte einen Augenblick. »Der Name sagt mir etwas.«
    »Ein hoch gewachsener Mann, der lange beim Heer in Afrika war«, erläuterte Pitt.
    Wray wirkte erleichtert. »Ach ja, natürlich. Waren das nicht die Zulukriege? Soweit ich mich erinnere, hat er sich dabei sehr hervorgetan. Nein, begegnet bin ich ihm nie, aber ich habe von ihm reden hören. Es hat mir sehr Leid getan zu erfahren, dass ihn wieder ein schwerer Schicksalsschlag getroffen hat, denn er hat seinen einzigen Sohn verloren.« In seinen Augen
glänzte etwas, und es schien, als könne er einen Augenblick lang nichts sehen, doch beherrschte er seine Stimme und konzentrierte sich auf die Fragen seines Besuchers.
    »Ich bin nicht wegen dieses Verlustes hier«, sagte Pitt rasch, bevor er überlegen konnte, ob er sich damit widersprach oder nicht. »Er war kürzlich anwesend, als ein anderer Mensch starb  … jemand, zu dem er gegangen war, um Trost für den Tod seines Sohnes zu finden … oder die Art, wie er gestorben war.« Er schluckte und beobachtete aufmerksam Wrays Gesicht. »Es handelte sich um eine Spiritistin.« Hatte Wray in den Zeitungen davon gelesen? Sie hatten sich in jüngster Zeit hauptsächlich mit der bevorstehenden Wahl

Weitere Kostenlose Bücher