Feinde der Krone
Geruch frisch gegossener heißer Erde. In all dem lagen so viele Erinnerungen an sein eigenes Zuhause, dass sie ihn einen Augenblick lang überwältigten.
Auf den ersten Blick konnte man glauben, im Garten wachse alles wahllos durcheinander, doch war ihm klar, dass Jahre gewisssenhafter Arbeit darin steckten. Alle verwelkten Blüten waren sorgfältig abgeschnitten, nirgends sah man Unkraut, alles war an seinem Platz. In einer überwältigenden Fülle von Farben standen vertraute und unbekannte Pflanzen beieinander, exotische und einheimische Gewächse. Der bloße Anblick des Gartens sagte ihm viel über den Mann, der ihn angelegt hatte. Ob es Francis Wray selbst gewesen war oder ein bezahlter Gärtner? In letzterem Fall läge dessen wahre Belohnung in seiner Kunst, ganz gleich, wie viel er verdiente.
Pitt trat durch das Gartentor ein, schloss es hinter sich und ging auf das Haus zu. Eine schwarze Katze räkelte sich auf dem Fensterbrett in der Sonne, eine Schildpattkatze strich durch den gefleckten Schatten leuchtend roter Löwenmäulchen. Pitt hoffte inständig, hier die falsche Fährte zu verfolgen.
Er klopfte an die Haustür. Ein Dienstmädchen von höchstens fünfzehn Jahren ließ ihn ein.
»Wohnt hier Mr. Francis Wray?«, fragte Pitt.
»Ja, Sir.« Sie wirkte gelassen. Vielleicht kamen normalerweise lediglich Amtsbrüder oder Gemeindemitglieder ins Haus. »Sir … würden Sie bitte warten, während ich nachsehe, ob er daheim ist?« Sie tat einen Schritt zurück und schien nicht zu wissen, ob sie ihn hereinbitten, vor der Tür stehen lassen oder diese gar wieder schließen sollte, für den Fall, dass er beabsichtigte, das blitzblank geputzte verzierte Messing-Zaumzeug zu stehlen, das die Dielenwand schmückte.
»Darf ich im Garten warten?«, fragte er mit einem Blick auf die Blumenpracht hinter ihm.
Erleichterung breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Natürlich, Sir. Der gnä’ Herr gibt sich wirklich große Mühe damit,
nicht wahr?« Mit einem Mal zwinkerte sie, weil ihr Tränen in die Augen traten, und Pitt begriff, dass sich Wray seit seinem großen Verlust in die Gartenarbeit geflüchtet hatte. Vielleicht besänftigte die körperliche Beschäftigung seine Empfindungen zum Teil. Blumen nehmen alle Bemühungen geduldig hin und geben nichts als Schönheit zurück, stellen keine Fragen und stören nicht.
Er brauchte nicht lange in der Sonne zu stehen, von wo aus er der Schildpattkatze zusah, denn schon bald kam Wray zur Haustür heraus und über den kurzen Gartenweg auf ihn zu. Er war von durchschnittlicher Größe, etwa eine Handbreit kleiner als Pitt. In jüngeren Jahren war er vermutlich etwas größer gewesen, denn seine Schultern hingen herab, und sein Rücken war gebeugt. Vor allem aber seinem Gesicht ließen sich die unauslöschlichen Spuren innerer Qual ansehen. Unter seinen Augen lagen Schatten, tiefe Falten waren zwischen Mund und Nase eingegraben, und auf seiner papierdünnen Haut war ihm das Rasiermesser mehr als einmal erkennbar ausgeglitten.
»Guten Tag, Sir«, sagte er ruhig mit bemerkenswert melodiöser Stimme. »Mary Ann hat mir gesagt, dass Sie mich zu sprechen wünschen. Was kann ich für Sie tun?«
Flüchtig dachte Pitt daran zu lügen. Was er zu tun im Begriff stand, konnte nur schmerzlich sein und den Mann in tiefster Seele verstören. Dann verwarf er den Gedanken. Immerhin war es möglich, dass er ›Kartusche‹ vor sich hatte, und dieser könnte zumindest eine weitere Erinnerung an den bewussten Abend beisteuern sowie an andere Gelegenheiten, bei denen er gemeinsam mit Rose Serracold und General Kingsley das Medium aufgesucht hatte. Von einem Mann, der das ganze Leben im Dienst der Kirche zugebracht hatte, durfte man doch gewiss erwarten, dass er ein geschulter Beobachter der Menschennatur war.
»Guten Tag, Mr. Wray«, sagte er. »Ich heiße Thomas Pitt.« Es war ihm alles andere als recht, mit Maude Lamonts Tod beginnen zu müssen, aber er hatte keinen anderen Grund, Wrays Zeit in Anspruch zu nehmen. Andererseits war es nicht nötig, sofort mit der ganzen Wahrheit herauszurücken. »Ich
bemühe mich, an der Aufklärung eines tragischen Vorfalls mitzuwirken, zu dem es kürzlich in London gekommen ist, ein Todesfall unter äußerst unangenehmen Umständen.«
Einen Augenblick lang verzog Wray das Gesicht, doch das Mitgefühl in seinen Augen war ungeheuchelt. »In dem Fall sollten Sie besser mit mir ins Haus gehen, Mr. Pitt. Wenn Sie eigens von London gekommen sind, haben Sie
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